Blogbeitrag
Welche Medienregeln sind sinnvoll bei Jugendlichen, die stark psychisch belastet, in Gefahr oder für andere gefährdend sind? Das Studienprojekt re:connect ist dieser Frage in stationären Einrichtungen der Jugendhilfe und Jugendpsychiatrie nachgegangen. Fazit: Das Spannungsfeld zwischen Schutz und Selbstbestimmung ist gross. Tragfähige Lösungen beginnen immer mit Beziehungsarbeit.
In stationären Einrichtungen der Jugendhilfe und Jugendpsychiatrie leben Jugendliche, die intensive Unterstützung benötigen. Manche sind freiwillig dort, andere aufgrund einer behördlichen Anordnung. Einige haben traumatische Erfahrungen hinter sich, andere befinden sich in akuten Krisen. Die Einrichtungen bieten Schutz und Begleitung, sie sollen Stabilität schaffen und Entwicklung ermöglichen.
Im Alltag dieser Jugendlichen spielt das Handy eine zentrale Rolle. In dieser ohnehin schwierigen Zeit, wenn die Jugendlichen ihrem bisherigen Umfeld entzogen sind, ist es vor allem Brücke nach draussen, zu Freunden und Familie. Es ist Teil ihrer persönlichen Identität, bietet Unterhaltung und hilft, zu entspannen und mit negativen Emotionen umzugehen.
Gleichzeitig sind Fachpersonen verpflichtet, Risiken zu begrenzen und Jugendliche zu schützen. Insbesondere, weil für diese vulnerable Gruppe die Gefahren im digitalen Raum, die mit dem typischen Experimentieren im Jugendalter einhergehen, noch grösser sind. Daraus entsteht ein Spannungsfeld: Wie lässt sich Sicherheit gewährleisten, ohne Autonomie zu nehmen?
Prof. Dr. Rahel Heeg vom Institut Kinder- und Jugendhilfe der Hochschule für Soziale Arbeit FHNW und Monika Luginbühl von BFF – Kompetenz Bildung Bern haben mit einem Projektteam (Fabienne Valaulta, Martina Fischer und Brigitte Müller) den Umgang mit digitalen Medien in stationären Einrichtungen der Jugendhilfe und Jugendpsychiatrie untersucht. Befragt wurden Jugendliche zwischen zwölf und achtzehn Jahren sowie Fachteams mit dem Ziel, Wege zu finden, wie Schutz, Aufsicht und Selbstbestimmung miteinander vereinbar sind.
Was deutlich wurde in den Gesprächen: «Der Gap zwischen Jugendlichen und Fachpersonen ist gross», so Rahel Heeg. «Fachpersonen können sich oft nicht wirklich hineinversetzen in Jugendliche und in das, was sie online machen.» So liege der Fokus der Fachteams meist auf den Risiken: Etwa, wenn sie kaum vom Handy wegzukriegen sind. Wenn sie Posts und Videos anschauen, in denen Selbstverletzungen oder Essstörungen inszeniert werden. Wenn Jungs illegale gewalthaltige Inhalte konsumieren und weiterschicken. Oder wenn Mädchen sexualisierte Fotos von sich aufnehmen und zum Verkauf anbieten.
Diese Alltagsbeobachtungen wirken sich auch auf die Medienregeln in den Einrichtungen aus. Die Forscherinnen haben vier Muster im Umgang mit digitalen Medien festgestellt. Zwei davon orientieren sich an einer restriktiven Haltung:
Die Jugendlichen müssen ihre digitalen Geräte abgeben und erhalten keinen oder nur sehr beschränkten Zugang.
Die Jugendlichen werden mit digitalen Medien belohnt, wenn sie sich im Alltag bewähren und Regeln befolgen.
Auch wenn einige Jugendliche die Erfahrung gemacht haben, dass sie durch den verordneten Handyverzicht wieder mehr andere Interessen wie Musik oder Sport entdeckt haben, werten die Forscherinnen restriktive Regelungen eher kritisch. Denn die Jugendlichen lernen so nicht, sich kritisch mit ihrer eigenen Mediennutzung auseinanderzusetzen, sich mit Risiken zu befassen und selbstbestimmte Schutzstrategien zu entwickeln. Hinzu kommt, dass sich Jugendliche durch die Einschränkung ausgeschlossen fühlen. Oder, wie Rahel Heeg es formuliert: «Handyentzug ist die Höchststrafe.»
In die andere Richtung geht ein drittes Regelungsmuster, das die Forschenden mit «Privat ist privat» umschreiben. Hier sind die Jugendlichen hauptsächlich selbst in der Verantwortung, wenn es um ihre Mediennutzung geht. Die Betreuungspersonen greifen nur ein, wenn Schwierigkeiten auftauchen oder wenn die Jugendlichen auf sie zukommen. Die Freiheit wird von den Jugendlichen zwar geschätzt. Im Rahmen der Studie wird aber auf die Problematik von riskanten Nutzungsmustern (z. B. exzessiver Konsum oder selbstgefährdende Inhalte) hingewiesen. Zu viel Freiheit kann überfordern. Und auch hier gilt: Ohne Begleitung entwickeln Jugendliche keine Strategien, um ihren Medienumgang zu regulieren.
Alle Informationen zu re:connect mit einem ausführlichen Bericht finden Sie auf der Projektwebseite. Eine Broschüre bietet zudem Praxisanregungen für die (sozial-)pädagogische Arbeit in der stationären Jugendhilfe und Jugendpsychiatrie.
Was also ist die Lösung? Laut Rahel Heeg beginnt sie bei der Haltung der Fachteams: «Wenn der Fokus einseitig auf Gefahren gerichtet wird, werden sie es nicht schaffen, in einen Dialog zu kommen. Jugendliche spüren das 100 Meter gegen den Wind. Dass soll nicht heissen, dass Risiken ausgeblendet werden, aber die positiven Seiten und vor allem die Bedeutung der digitalen Aktivitäten für die Jugendlichen anzuerkennen, ist enorm wichtig. Das schafft die Basis, um konkrete Fragen zu klären.»
Das Regelungsmuster «Wie geht es dir online?» verspricht für das Projektteam den grössten Erfolg. Das heisst: Regeln und Kriterien orientieren sich an den individuellen Situationen und Bedürfnissen der Jugendlichen und werden gemeinsam mit ihnen entwickelt. Das fördert das Vertrauen in die Betreuenden und die Akzeptanz der Regeln.
Eine Erkenntnis der Studie ist, dass sich viele Jugendliche durchaus Gedanken machen über Mediennutzung und -inhalte, wie Rahel Heeg erklärt: «In vielen Fällen können Jugendliche sehr viel mehr Auskunft geben über sich und ihre Situation, als man meinen würde. Darum ist es für Fachteams wichtig, Fragen zu stellen und die Jugendlichen zu befähigen. Also nicht das Schwergewicht darauf zu legen, Jugendliche von digitalen Medien fernzuhalten, sondern zu schauen, was sie brauchen.» Das richtet den Blick weg von der reinen Nutzungszeit, hin zum Erleben der Jugendlichen.
Für ein strukturiertes und gut verankertes Vorgehen empfiehlt sich ausserdem ein medienpädagogisches Konzept, das Zuständigkeiten, Abläufe und Vorgehen festhält und die Umsetzung konkretisiert. So kann zwischen Aufsicht, Schutz und Befähigung eine Balance gefunden werden.
Gleichzeitig betont die Studie, dass professionelles Handeln im Umgang mit digitalen Medien verlangt, sich von der Illusion einer perfekten Regelung zu verabschieden. Entscheidend ist vielmehr, dass Fachpersonen in Beziehung bleiben und das digitale Verhalten der Jugendlichen verstehen lernen. Mediennutzung ist Ausdruck von Selbstbestimmung, Bedürfnissen und Gefühlen. Verständnis dafür ermöglicht eine wirksame Begleitung.
Bettina Bichsel ist Journalistin und Texterin. Sie schreibt und bloggt unter anderem für Jugend und Medien.
Letzte Aktualisierung des Textes am 27.11.25