Am Tag der Einvernahme ist Lina nervös, aber gewillt, mit ihrer Aussage die Ermittlungen zu unterstützen. Das Gebäude der Polizei ist riesig, wie am Flughafen müssen wir uns ausweisen und eine Sicherheitskontrolle passieren, bevor wir mit dem Lift ein paar Stockwerke hochfahren. Oben warten wir am falschen Ort und es dauert eine Weile, bis die Polizistin und die Polizeipsychologin uns finden. Anders, als wir uns das vorgestellt haben, sitzt die Psychologin während der Befragung nicht an Linas Seite, sondern in einem Nebenraum, wo sie per Videoübertragung das Gespräch mitverfolgen kann. Mein Platz ist in Linas Rücken in der Ecke des Raumes. Noch einmal werde ich angewiesen, mich absolut ruhig zu verhalten.
Die Befragung dauert mehr als eine Stunde und verläuft sehr sachlich. Ich verstehe, dass das so sein muss, um jeden Eindruck von Parteinahme zu verhindern. Aber versteht das auch Lina? Oder wirkt es auf sie bloss kalt und unempathisch? Anteilnehmende Bemerkungen oder Nachfragen, ob Lina eine Pause, ein Taschentuch oder einen Schluck Wasser brauche, werden jedenfalls nicht geäussert. Als mir doch mal was rausrutscht, werde ich sofort ermahnt, ruhig zu bleiben. Also beisse ich mir fortan auf die Zunge, auch wenn ich an mehreren Stellen gerne noch Dinge präzisiert oder erklärt hätte, die Lina in der Nervosität nicht gut wiedergeben konnte.
Als Mama bin ich froh, höre ich von den Vorfällen nicht zum ersten Mal in diesem kühlen Vernehmungszimmer. Ich weiss nicht, wie ich reagiert hätte. Geschrien? Geweint? Mich auf den sauberen Teppich erbrochen? Auch für Lina bin ich froh, konnte sie bereits in den zurückliegenden Tagen in einer vertrauten, sicheren und anteilnehmenden Umgebung schildern, was passiert ist.
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Ein Fazit habe ich nicht. Aber ein paar Wünsche:
An die Eltern und andere Bezugspersonen
Sprecht mit euren Kindern über die Anzeichen von Cybergrooming, stellt klar, wie verwerflich und strafbar dieses Verhalten ist. Es kann dennoch sein, dass eure Töchter oder Söhne den Verführungsmaschen der Täter verfallen, besonders dann, wenn es ihnen schon aus anderen Gründen nicht gut geht. Seid nicht böse, weder mit ihnen noch mit euch, beschuldigt sie nicht und schützt sie vor anderen, die ihnen eine Mitschuld anlasten wollen. Sucht Hilfe für euer Kind und vielleicht auch für euch selbst, zum Beispiel bei einer Opferhilfestelle.
An die Polizei
In unserem Fall liefen der Kontakt und die Einvernahme ganz okay. Eine Vertrauensperson an der Einvernahme dabeizuhaben, finde ich für die meisten Teenager nicht fakultativ, sondern zwingend, selbst wenn diese nichts sagen darf. Mehr Informationen im Voraus zur nüchternen Art des Gesprächs und zur nicht-wirklichen Anwesenheit der Psychologin wären wichtig gewesen. Ebenso hätte ich es begrüsst, wenn die Polizeipsychologin oder die Polizistin nach der Einvernahme noch irgendwie «offiziell» deutlich gemacht hätten, dass das Erlebte sehr schlimm ist, dass meine Tochter keine Schuld trifft und dass sie mit ihrer Aussage das Vorgehen gegen den Täter unterstützt. Wünschenswert sind transparente und zeitnahe Informationen durch die Polizei oder die Strafverfolgungsbehörden zum weiteren Verlauf der Abklärungen.
An die Jugendlichen
Ihr habt vielleicht zu Hause, in der Schule oder in den Medien schon von Cybergrooming gehört. Vielleicht habt ihr sogar realisiert, dass euch genau das schon zugestossen ist oder aktuell passiert. Euch zu schämen oder schuldig zu fühlen dafür, dass ihr Opfer geworden und mitgemacht habt, nützt höchstens (potentiellen) Tätern. Ihr könnt nichts dafür und ihr seid nicht allein! Sucht euch unbedingt Vertrauenspersonen, die euch bei der Verarbeitung und/oder bei der Anzeige unterstützen können.
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