«Geh dich umbringen!» – wie meine Tochter zur Zielscheibe von Online-Hass wurde

| Noëmi Pommes

Meine Tochter teilt ihr halbes Leben auf Snapchat. Sie erhält viele bestärkende Nachrichten – manchmal aber auch glühenden Hass total aus dem Nichts. So geschehen nach einem Besuch im Nagelstudio.

«Heute möchte ich die Nägel mal etwas spitzer feilen.» Meine Tochter hält der Naildesignerin im Studio ihr Handy entgegen, darauf ein Bild mit zartrosa Nägeln, die spitz zulaufen. Ich bin überrascht, bisher wollte sie ihre Nägel immer oval wie die meisten ihrer Altersgenossinnen – und selbst finde ich die spitzen Nägel auch nicht besonders schön. Aber ich sage natürlich nichts, sondern bin insgeheim stolz, dass sie so selbstsicher wählt, was ihr gefällt. Die Nailstylistin zieht ihre Atemmaske hoch und macht sich an die Arbeit.

90 Minuten später ist das Werk vollendet, meine Tochter zufrieden. Sie hält ihre linke Hand in die Höhe und macht ein Foto. «Was tust du?», frage ich sie. «Ich mach eine Story für Snapchat», antwortet sie schulterzuckend. Sie zieht ihre Jacke an und wir gehen nach Hause.

Ich bin beeindruckt von ihren Videoskills, wie gut und ausgewogen sie Sachverhalte erklärt und argumentiert, wie deutlich sie spricht, wie empathisch sie sich äussert.

Die Kehrseite des Snapchat-Erfolgs? Blanker Hass!

Meine Tochter teilt ihr halbes Leben auf Snapchat. Sie ist 14 Jahre alt und in ihrer Altersgruppe und in ihrem Umfeld ist Snap die App für alles. Die Jugendlichen nutzen sie zum Chatten, Telefonieren, um sich Snaps zu senden oder diese Bilder und Videos öffentlich in die Story zu posten. Über zehntausend Personen sehen die Storys meiner Tochter im Schnitt, manchmal sind es auch über hunderttausend. Ich bin über ihr Mini-Influencer-Dasein nicht gerade begeistert, erlaube es ihr aber, solange sie sich an abgesprochene Vorsichtsmassnahmen hält: Kein Gesicht zeigen, keine intimen Bilder, keine Hinweise zu Identität, Wohnort, Familie, Schule, aktuellem Standort etc. Manchmal schickt sie mir ihre Storys per Whatsapp («die Boomer-App meiner Eltern») weiter, und ich bin beeindruckt von ihren Videoskills, wie gut und ausgewogen sie Sachverhalte erklärt und argumentiert, wie deutlich sie spricht, wie empathisch sie sich äussert. Sie erhält viel Lob, Komplimente und Zuspruch.

Die Kehrseite des Erfolgs und der hohen Reichweite allerdings ist blanker Hass.

«Ich wünsche dir Depressionen!»

Auf dem Heimweg vom Nagelstudio surrt das Smartphone meiner Tochter unablässig in ihrer Jackentasche. «Sind das jetzt alles Reaktionen auf deine Story?», frage ich sie. «Wahrscheinlich schon», meint sie. Während mich die ständigen Vibrationen wahnsinnig machen, reagiert sie kaum. Erst zu Hause wirft sie wieder einen Blick auf ihr Handy und verschwindet in ihrem Zimmer.

Zwei Stunden später stürmt sie heraus. «Mama, schau! Wie krass ist das denn bitte?!» Sie hält mir ihr Handy entgegen und zeigt mir Kommentare, die auf ihre Story eingegangen sind.

  • «Voll nicht meins, sry!»
  • «Shöni Farb, aber wrm so spitzig?»
  • «1A-Starterkit für Mörder!»
  • «Ugggly!! Wünsch dir Depressionen!»
  • «Geh dich umbringen!»

«Chill, Mama. Das sind feige Deppen!»

Ich bin geschockt und überfordert. «Wer schreibt so was Fieses?», frage ich sie. «Kennst du die? Warum sind sie so gemein? Wie fühlst du dich? Was ist das für eine Scheiss-App!» Meine Tochter bleibt verhältnismässig ruhig. Vielleicht auch, weil sie befürchtet, ich könnte ihr sonst in Zukunft Snapchat verbieten. «Mama, das ist halt Snapchat und das sind alles feige Deppen. Wenn sie auf die Story antworten, können sie anonym haten. Sie trauen sich nicht, mir ihre Meinung in privaten Messages zu schreiben, denn dann sehe ich, wer sie sind. Das darfst du nicht so ernst nehmen. Längst nicht alle sind so! Chill einfach!» Sie wischt über ihr Handy und zeigt mir nun auch Kommentare, die die Hater*innen in die Schranken weisen, Solidarität bekunden – und ein paar bestärkende Nachrichten, die sie privat erhalten hat.

  • «Also ich finde deine Nägeli echt hübsch!»
  • «Ist natürlich Geschmackssache, aber was die anderen schreiben, geht voll nicht!»
  • «Hör nicht auf die, I reeeeeaaaallly love your nails!»

30 Jugendliche unter 18 Jahren nehmen sich jährlich das Leben

«Siehst du», sagt mein Teenager cool. «Das ist nicht so schlimm, wie es auf den ersten Blick scheint. Man darf sich das wirklich nicht zu Herzen nehmen.» Ich widerspreche vehement. «Nein, mein Schatz, das geht gar nicht, dass man so was schreibt. So unüberlegt! Weisst du, wie viele Jugendliche tatsächlich Depressionen und Suizidgedanken haben? Was macht das mit ihnen, wenn sie solche Nachrichten erhalten? Es ist einfach brandgefährlich, solche Dinge zu posten!»

Ich google: Rund 30 Prozent der Jugendlichen in der Schweiz fühlen sich psychisch belastet. Jede*r Zehnte ist deswegen laut Pro Juventute in psychotherapeutischer Behandlung. Jedes Jahr kommt es in der Schweiz in der Altersgruppe der 15- bis 18-Jährigen zudem zu etwa 30 Suiziden (Radix). Suizid ist damit in dieser Alterskategorie die häufigste Todesursache. Bei den 19- bis 25-Jährigen sind es jährlich doppelt so viele Suizide.

Es macht mir Angst, dass du solche Kommentare erhältst. Auch wenn du jetzt cool und gelassen reagierst; das macht doch was mit dir, wenn du das liest.

Faucht da grad die Löwinnen-Mama in mir?

Ist es wirklich so, bin ich zu alt, zu emotional oder habe schlicht zu wenig Erfahrung mit Snapchat? Ist es, weil es sich um meine Tochter dreht, die selbst schon Erfahrungen mit Mobbing und Depressionen gesammelt hat? Faucht da grad die Löwinnen-Mama in mir? Plötzlich tut mir mein Ausbruch leid. Meine Tochter ist ja nicht die Absenderin, sondern die Empfängerin dieser schrecklichen Kommentare. Ich nehme sie in den Arm. «Es macht mir Angst, dass du solche Kommentare erhältst. Auch wenn du jetzt cool und gelassen reagierst; das macht doch was mit dir, wenn du das liest. Ich bin dir dankbar, dass du mir das gezeigt hast. Und ich bin immer, immer für dich da!»

Ein paar Wochen später sprechen wir nochmals über diesen Hass auf Snapchat. Die Story ist längst abgelaufen, die schlimmen Kommentare nicht mehr sichtbar, die Nägel wieder oval. Mit etwas mehr Distanz gibt meine Tochter zu, dass der Hass sie damals schon getroffen habe: «Ja, es hat mich traurig gemacht und ich bin erschrocken. So brutal habe ich den Hass gegen mich noch nie erlebt. Es hat mir aber auch nochmals gezeigt, wie wichtig es ist, anderen beizustehen, wenn sie zur Zielscheibe werden und wie gut es tut, wenn andere sich für einen einsetzen. Und weisst du, Mama: Ich sehe und erlebe viel Schlimmes auf Social Media. Man gewöhnt sich daran. Ich erlebe aber auch viel Gutes. Das Positive ist für mich viel stärker.»

Tipps für Eltern

  • Am besten ist es, nicht auf Hass-Kommentare zu reagieren.
  • Die Absender*innen von Hass-Kommentaren können blockiert und bei den Social-Media-Plattformen gemeldet werden.
  • Screenshots als Beweissicherung machen Sinn. Denn: Wer Hass-Kommentare postet, kann sich strafbar machen. Die Anonymität des Internets mag eine Identifizierung der Hater*innen erschweren. Trotzdem ist das Internet kein rechtsfreier Raum. Die Polizei, Initiativen wie → Netzcourage und → Stop Hate Speech oder die Anlaufstellen → 147 und → 143 bieten online oder telefonisch Hilfe.


Bleiben Sie mit Ihrem Kind über alles, was es online macht, im Gespräch. Und achten Sie darauf, ob sich Ihr Kind plötzlich anders verhält. Zieht es sich zurück? Ist es bedrückt? Verschlechtern sich die Schulleistungen? Veränderungen im Verhalten können ein Anzeichen dafür sein, dass der Leidensdruck zunimmt.

*

Weitere Informationen zum Thema finden Sie in unserer Rubrik Diskriminierung und Hass im Netz.

Noëmi Pommes ist Medienschaffende und zweifache Mutter, setzt sich beruflich und privat für Inklusion und Diversität ein, regt sich auf über Ungleichbehandlung und Starrköpfigkeit und kompensiert mit Fritten, Singen und Campen im VW-Bus. Zum Schutz ihrer Kinder schreibt sie hier unter einem Pseudonym.