«Im Prozess des Mann-Werdens lassen wir unsere Jungen ziemlich allein»

| Bettina Bichsel

Alpha? Das war gestern. Auf TikTok und Instagram zelebrieren sich Influencer gerne als sogenannte Sigma-Männer: erfolgreich, selbstbewusst, unabhängig. Was sie aber vor allem vermitteln: toxische Männlichkeit. Jungs brauchen definitiv bessere Vorbilder!

Wahrscheinlich erinnern wir uns alle noch daran: Erwachsenwerden kann ganz schön überfordern. Das gilt für jegliche geschlechtliche Identität; in diesem Beitrag soll es aber spezifisch um Jungs gehen. Was bedeutet es heutzutage, Mann zu werden? Und wie können wir Jungs in diesem Prozess bestmöglich unterstützen?

Auch wenn sie sich nach aussen hin cool geben und es nicht zugeben würden: Für die meisten Jungs ist das Erwachsenwerden mit vielen Unsicherheiten verbunden. Sie wurden in eine komplexe Welt hineingeboren, in denen traditionelle Rollenbilder zwar aufgebrochen, aber noch längst nicht verschwunden sind.

Das Spektrum ist breit geworden, aber auch widersprüchlich

Ja, es gibt Stars wie Harry Styles, die eine moderne, hybride Form der Männlichkeit vorleben. Der britische Sänger und Schauspieler trägt Glitzeroveralls, durchsichtig-feminine Blusen, auch mal ein rosafarbenes Ballettröckchen und hat es als erster cis Mann (cis Personen identifizieren sich mit demjenigen Geschlecht, das ihnen bei der Geburt zugewiesen wurde) auf das Titelblatt des Modemagazins Vogue geschafft. Seinen Status als Frauenschwarm zementieren die kreischenden weiblichen Fans bei jedem seiner Auftritte von Neuem.

Viele Männer arbeiten zudem in Teilzeit, um mehr für ihre Kinder da sein zu können. Sie wollen ihre Vaterrolle anders wahrnehmen, als sie es aus eigenen Kindheitstagen kennen, wollen präsenter sein, zugewandter. Sie wollen ihren Söhnen nicht mehr vermitteln, dass 'Jungs keine Heulsusen' sind, sondern dass Tränen okay sind. Dass es wichtig ist, Gefühle zuzulassen.

Gleichzeitig sind traditionelle Männerbilder nach wie vor stark präsent, nicht zuletzt in Filmen und Serien, in Videospielen oder eben in den Social-Media-Kanälen. Für Markus Theunert, Gesamtleiter des Vereins männer.ch, macht gerade dieses breite Männlichkeitsspektrum das Mann-Werden für Jungs schwierig: «Die Männlichkeitsanforderungen haben sich nicht im Kern transformiert. Einerseits bleiben die alten Anforderungen wirkmächtig, wonach ein 'richtiger' Mann hart, leistungsfähig, durchsetzungsstark und souverän sein muss. Andererseits kommen zusätzliche Anforderungen hinzu, beispielsweise die Forderung nach Sensibilität, Empathie, sozialer Kompetenz und väterlicher Präsenz. Die innere Widersprüchlichkeit dieser Anforderungen wird kaum beleuchtet.»

Einige Blogs sind unverhohlen frauenverachtend.

Bettina Bichsel

Social Media: Sigma-Males und Pick-up-Artists

In diesem Spannungsfeld ist es kein Wunder, dass Heranwachsende verunsichert sind und nach Orientierung suchen. Denn Jugendliche brauchen Vorbilder, die sie inspirieren und ihnen ein greifbares, attraktives und funktionierendes Mann-Sein vorleben. Influencer aus der Sigma-Male-Szene, fragwürdige Männlichkeits-Coaches und sogenannte Pick-Up-Artists (Deutsch: Abschlepp-Künstler) geben vor, genau das zu bieten. Sie prahlen damit, die ultimativen Tipps zu haben, um erfolgreich zu sein – sei es in Bezug auf Geld, Karriere oder Frauen.

Nicht immer, aber oft werden dabei Grenzen zu toxischer Männlichkeit und zu Frauenfeindlichkeit überschritten.

Sigma-Männer werden generell als Einzelkämpfer dargestellt. Sie brauchen niemanden ausser sich selbst. Was andere über sie denken, ist ihnen egal. Entsprechend richten sie sich einzig an ihren Bedürfnissen, Wünschen und Zielen aus. Ein Sigma-Mann setzt sich immer an die erste Stelle und in den Mittelpunkt seiner Aufmerksamkeit. Gesellschaftliche Normen interessieren ihn nicht. Er lebt nach seinen eigenen Vorstellungen und Regeln.

Und von wegen Regeln: Um es in die Liga der (äusserst raren) Sigma-Männer zu schaffen, muss jemand, so heisst es in Posts und Videos, die zum Teil zigtausend- und millionenfach angeklickt werden...

  • immer diszipliniert sein
  • seine Emotionen unter Kontrolle halten
  • seinen Körper stählen
  • Menschen manipulieren
  • Frauen nicht nachrennen (sie sollen kommen)
  • sich nicht darum kümmern, was andere sagen
  • nichts erwarten
  • aufhören, zu nett zu sein
  • immer auf seine Ziele fokussiert bleiben
  • sich rächen
  • nur sich selbst vertrauen


Die Beispiele sind aus verschiedenen Quellen, die ich hier absichtlich nicht nenne, weil ich den Kanälen keine Plattform geben möchte. In einigen Blogs wird es unverhohlen frauenverachtend: «Man muss in die Beziehung eine bittere, schmerzhafte Note einbringen. Ein Beispiel: Man lockt mit konzentrierter Aufmerksamkeit, dann macht man eine Kehrtwende und zeigt Desinteresse. Man lässt die Person sich schuldig und unsicher fühlen. Man setzt die Person Einsamkeit und Schmerz aus, indem man z.B einen Streit anzettelt oder eine Trennung anspricht. So bekommt man Handlungsspielraum. Wenn man nach der Versöhnung wieder freundlich und liebevoll ist, wird die Person einem auf den Knien danken.»

Diese sogenannte Push&Pull-Strategie (übersetzt: wegstossen und wieder hinziehen) wird vor allem in der Pick-up-Artist-Szene zelebriert. Dass eine Beziehung auf Vertrauen basieren sollte, ist hier nicht angekommen.

Solche Plattformen finden ihr Publikum, weil wir unsere Jungen im Prozess des Mann-Werdens ziemlich allein lassen.

Markus Theunert, männer.ch

Verlockend einfache Botschaften

Markus Theunert sieht in der Verbreitung solch toxischer Männlichkeitsbilder ein gesamtgesellschaftliches Problem: «Solche Plattformen finden ihr Publikum, weil wir unsere Jungen im Prozess des Mann-Werdens ziemlich allein lassen. Schon von Kindsbeinen an fehlen die männlichen Rollenmodelle im Leben der Jungen. In der Kita und im Kindergarten liegt der Anteil männlicher Fachleute deutlich unter zehn Prozent, in der Primarschule deutlich unter 20 Prozent. Und auch die Väter übernehmen – immerhin, aber trotzdem 'nur' – 38 Prozent der Betreuungsaufgaben.»

Dass Jungs sich darum anderweitig nach Vorbildern umsehen, scheint verständlich. Dass sie sich an Botschaften orientieren, die klar und einfach klingen, genauso. Problematisch wird es aber, wenn diese Botschaften mit der viel komplexeren Realität kollidieren.

«Im Kern dieser Botschaften steht die Idee einer naturgegebenen Männlichkeit, die untrennbar mit dem Prinzip Kampf verbunden ist, während Weiblichkeit das Prinzip Sorge zugeordnet wird», so Markus Theunert. «Das mag als Botschaft attraktiv sein, ist aber wissenschaftlich Unsinn, weil wir wissen, wie stark solche Zuschreibungen kulturell geprägt sind. Und die Gefahren solcher Botschaften sind zahlreich: Einerseits wird es schwierig, mit sich selbst einen liebevoll-sorgsamen Umgang zu entwickeln, und andererseits drohen schnell Probleme mit der äusseren Welt, die andere Erwartungen stellt.»

Auf dem Weg zu einer eigenständigen Identität als Mann braucht es nicht zuletzt die Abgrenzung vom Vater.

Bettina Bichsel

Tipps für Eltern

Damit Jungs auf ihrer Suche nach Vorbildern nicht ins Netz flüchten, brauchen sie im Alltag Männer, an denen sie sich orientieren – und auch reiben können. Auf dem Weg zu einer eigenständigen Identität als Mann braucht es nicht zuletzt die Abgrenzung vom Vater. Diskussionen oder auch einmal ein Streit gehören dazu. Wenn die Vater-Sohn-Beziehung vertrauensvoll und stabil ist, gelingen solche Auseinandersetzungen, ohne dass es zu Brüchen kommt. Regelmässige gemeinsame Aktivitäten und Gespräche, die über ein 'Wie war dein Tag?' und 'Wie läuft die Schule?' hinausgehen, fördern solch tragfähige Beziehungen. Auch sensible Themen wie Sexualität oder Pornografie sollten Raum finden, selbst wenn das für beide Seiten vielleicht Überwindung braucht (Tipps für Gespräche rund um Sexualität und Pornografie finden Sie in unserer gleichnamigen → Rubrik sowie im Blogbeitrag → «Am besten gelingt’s mit Gelassenheit und Humor»).

Als Eltern sollten Sie ausserdem trotz allem, was gerade im Umgang mit Teenagern herausfordernd und vielleicht nervig ist, nicht die positiven Dinge aus den Augen verlieren. Sagen Sie Ihrem Sohn, dass Sie ihn lieben, worauf Sie stolz sind und worüber Sie sich freuen.

Wenn keine enge Beziehung zum leiblichen Vater besteht, können auch andere Männer die Vorbildrolle übernehmen. Das kann ein neuer Partner oder ein Freund der Familie sein oder jemand wie der Sporttrainer, den der Sohn akzeptiert und achtet.

Bettina Bichsel ist Journalistin und Texterin. Sie schreibt und bloggt unter anderem für Jugend und Medien.