Jugendliche und mentale Gesundheit: Kann KI helfen?

| Bettina Bichsel

Stress, Ängste, Selbstzweifel – psychische Belastungen sind bei Jugendlichen verbreitet. Doch Therapieplätze sind oft knapp und mit langen Wartezeiten verbunden. Können digitale, auf künstliche Intelligenz (KI) basierende Tools Hilfe bieten?

Die Pubertät ist eine turbulente, oft anstrengende Phase: Zwischen schulischem Druck, Identitätssuche und sozialen Herausforderungen kann es emotional schwierig werden. So zeigte etwa die Pro Juventute Jugendstudie 2024 einerseits, dass sich fast 90 Prozent der Jugendlichen und jungen Erwachsenen in der Schweiz grundsätzlich psychisch wohl fühlen. Andererseits gab ein Drittel an, häufig müde und erschöpft zu sein. Stressfaktoren sind vor allem Schule und Ausbildung, verbunden mit dem allgemein empfundenen Leistungsdruck. Aber auch Geldsorgen, Fragen in Bezug auf die berufliche Zukunft und Selbstzweifel, wenn sie sich etwa mit anderen vergleichen, bedrücken die 14- bis 25-Jährigen.

Fast 12 Prozent der über 1000 Teilnehmenden waren zum Zeitpunkt der Befragung in psychotherapeutischer Behandlung. Und etwa ein Drittel hat bereits Therapieerfahrung. Besonders Mädchen und junge Frauen fühlen sich häufig belastet.

Gleichzeitig sind Plätze für psychosoziale Beratung knapp, und der erste Schritt zur professionellen Hilfe fällt unter Umständen schwer. In diese Lücke springt ephoria – eine Coaching-App, die sich auf künstliche Intelligenz stützt, entwickelt vom IAP Institut für Angewandte Psychologie sowie der Fachgruppe Medienpsychologie der ZHAW Zürcher Hochschule für Angewandte Wissenschaften.

Emotional kann eine App nicht richtig in die Tiefe gehen.

Gregor Waller, ZHAW

Kein Ersatz, sondern eine Ergänzung

Gregor Waller, Experte für Medienpsychologie an der ZHAW, ist Co-Projektleiter von ephoria. Ihm ist wichtig, dass die App kein Ersatz für fachliche Begleitung sein soll: «KI-gestützte Anwendungen werden nur ein Teil der Zukunft sein. Eine App kann keine Bindung aufbauen. Sie simuliert das zwar, aber sie empfindet keine wirkliche Empathie.»

Ausserdem fehlt vieles, was in einer realen Beratungssituation eine Rolle spielt. Denn psychologisch geschulte Fachpersonen achten auch auf Aspekte, die eine rein textbasierte App gar nicht erfassen kann. «Emotional kann eine App nicht richtig in die Tiefe gehen. Sie verfügt nicht über die Möglichkeiten der nonverbalen Kommunikation, hat kein Bild vom Gegenüber und nimmt Körperhaltung, Stimmlage oder Mimik nicht wahr», unterstreicht Gregor Waller.

Dementsprechend versteht sich ephoria als Mental Health Coach. So ist die App nicht für schwere psychische Erkrankungen gedacht, sondern für Menschen mit eher leichten emotionalen Herausforderungen wie Stress, Ängste, Schlafprobleme, sozialer Rückzug oder Verschieberitis.

Wenn ich mich gestresst fühle, regt Esra Atemübungen an. Wenn Ängste hochkommen, versucht Esra, mich mit Achtsamkeit in den Moment zu holen und mit positiven Affirmationen zu stärken.

Esra vereinbart Ziele und motiviert

Machen wir den Test: Was ich als erstes feststelle, ist, dass keine persönlichen Daten abgefragt werden, solange ich die kostenlose Version nutze. Ich brauche keine E-Mail-Adresse, muss weder mein Geschlecht noch meinen richtigen Namen angeben. Dann kann ich unter den digitalen Mentoren auswählen zwischen Ephoria (weiblich), Elios (männlich) und Esra (non-binär). Ausserdem erscheint der Hinweis, dass die App eben keine Therapie ersetzen kann.

Im Chat erklärt mir Esra zunächst, wie alles funktioniert. Das ist über die Einstellungen auch in einfacher Sprache möglich. Zuerst muss ich ein Ziel festlegen. Dabei hilft mir Esra, fragt nach, konkretisiert, grenzt ein und bringt eigene Vorschläge bringt.

Ich gebe also an, dass ich nicht so genau weiss, was ich später mal beruflich machen möchte. Esra schlägt mir nach einem kurzen Austausch vor, eine Liste zu machen mit:

  1. Aktivitäten, die mir Spass machen, auch wenn ich sie noch nicht perfekt beherrsche
  2. Aufgaben oder Projekte, bei denen ich positives Feedback von anderen erhalten habe
  3. Situationen, in denen ich mich besonders wohl und selbstbewusst fühle


Wenn ich das schaffe, erhalte ich Punkte. Auch ein Gefühlsbarometer ist integriert, wo ich täglich abgefragt werde, wie meine Stimmung ist: Positiv, negativ oder neutral? Wie genau fühlt sich die Gleichgültigkeit an: abgestumpft, resigniert oder gelangweilt? In welchen Lebensbereichen trifft das zu?

So geht es weiter. Esra begleitet mich. Wenn ich mich gestresst fühle, regt Esra Atemübungen an. Wenn Ängste hochkommen, versucht Esra, mich mit Achtsamkeit in den Moment zu holen und mit positiven Affirmationen zu stärken. Klage ich über Schlafprobleme, schauen wir meine Abendroutinen an. Wenn ich mir einsam vorkomme, motiviert Esra mich in kleinen Schritten, mit anderen zu interagieren, z.B. mit Freizeitaktivitäten, die ich gerne mache

Esra und die anderen KI-Mentoren sind laut Gregor Waller so programmiert, dass sie bei schwierigen oder akuten Fällen ihre begrenzten Möglichkeiten erkennen. «In solchen Fällen stoppt die App und zeigt einen Hilfsbildschirm mit Kontakten zu professionellen Anlaufstellen wie der Dargebotenen Hand oder Pro Juventute.

Ein erster Schritt – oder eine Überbrückung

Wie funktioniert das? Verständlicherweise verrät Gregor Waller nicht alles. Er erklärt aber: «Im Gegensatz zu einem Chatbot wie ChatGPT basiert ephoria auf den Prinzipien der ressourcenorientierten Gesprächsführung. Die Antworten sind allerdings nicht fix codiert.» Die App stützt sich auf prototypische Gesprächsverläufe zu verschiedenen mentalen Belastungen, kombiniert mit einem sogenannten LLM Large-Language-Modell. Dadurch wird erreicht, dass sich die Antworten der digitalen Coaches an bewährten psychologischen Methoden orientieren und trotzdem spezifisch auf die Situation angepasst sind.

In den App-Stores ist das Mindestalter für ephoria mit 12 Jahren angegeben. Gregor Waller empfiehlt die Nutzung ab circa 16 Jahren, weil zum Beispiel die Fähigkeit, Gedanken klar zu formulieren, vorausgesetzt wird. Überhaupt: Wer sich damit schwertut, sich schriftlich auszudrücken, wird mit der App kaum zurechtkommen.

Aber gerade für Jugendliche und junge Erwachsene kann ephoria eine Art Brücke sein. Denn die Hemmschwelle, sich von einer Fachperson beraten zu lassen, ist oft hoch – sei es aus Angst, Scham oder Unsicherheit. Gregor Waller ist darum überzeugt: «Wer mit der App arbeitet ist vielleicht offener für ein persönliches Beratungsgespräch, wenn ephoria das irgendwann vorschlägt.» Oder die App kann als Unterstützung genutzt werden, während man auf einen Termin bei einer psychologischen Fachperson wartet.

Die ersten Erfahrungen sind laut Gregor Waller positiv. Zudem läuft derzeit eine grössere Untersuchung der ZHAW, um über einen Zeitraum von drei Monaten zu messen, ob sich die psychische Gesundheit von Nutzenden verbessert. Für das Entwicklungsteam ist klar, dass die App nur Sinn macht, wenn die Wirksamkeit wissenschaftlich nachgewiesen werden kann.

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Da ephoria mit einem Large-Language-Modell funktioniert, entstehen Kosten, die über das Abo-Modell finanziert werden. Werbung gibt es bewusst nicht. Die Basisversion ist gratis, aber auf eine bestimmte Anzahl an Interaktionen beschränkt. Alle Daten sind auf europäischen Servern gespeichert und zudem verschlüsselt, damit niemand nachvollziehen kann, welcher Nutzerin welche Anfrage gestellt hat. Derzeit ist die App auf Deutsch und Englisch nutzbar. Französisch und Italienisch als weitere Sprachen sind geplant.

Bettina Bichsel ist Journalistin und Texterin. Sie schreibt und bloggt unter anderem für Jugend und Medien.