Komplex, aber unabdingbar: Medienkompetenzförderung im sozial-, heil- und sonderpädagogischen Umfeld

| Bettina Bichsel

Am gesellschaftlichen Leben zu partizipieren bedingt heute auch, Zugang zu digitalen Medien zu haben und kompetent mit diesen umgehen zu können. Kindern und Jugendlichen, die unter erschwerten Bedingungen aufwachsen, ist dieser Zu- und Umgang allerdings oft erschwert:

Heranwachsende mit Behinderung:
Neben Einschränkungen bei der Bedienung und Nutzung, aber auch beim Verstehen von abstrakten digitalen Prozessen sind oft auch Ängste und Unsicherheiten von Eltern und Betreuungspersonen bezüglich der Risiken im Internet ausschlaggebend dafür, dass Heranwachsende mit kognitiven und körperlichen Beeinträchtigungen weniger Möglichkeiten im Umgang mit digitalen Medien haben. Dabei bieten diese ein grosses Potenzial, beispielsweise zur Überwindung von Barrieren, für Zugewinne an Autonomie oder zur Unterstützung bei Lernprozessen.

Geflüchtete Kinder und Jugendliche:
Heranwachsende mit Migrationshintergrund bringen unterschiedliche Kompetenzen in Bezug auf digitale Medien mit. Wird der Internetzugang in ihren Institutionen (z.B. Asyl-Unterkünfte) allerdings eingeschränkt, mindert das auch die Möglichkeit, mit ihrem Heimatland und dort verbliebenen Angehörigen, Freunden und Bekannten in Kontakt zu bleiben, was für ihre emotionale Entwicklung von Bedeutung ist.

Heranwachsende aus Familien mit tieferem sozio-ökonomischen Status:
Eltern mit finanziellen und emotionalen Belastungen haben häufiger als andere nicht die zeitlichen Ressourcen, ihre Kinder intensiv bei der Mediennutzung zu begleiten. Die mangelnde elterliche Aufmerksamkeit kann dazu führen, dass junge Menschen den digitalen Medien einen besonders grossen Stellenwert einräumen und entsprechend viel Zeit damit verbringen.

Vor diesem Hintergrund und mit Blick auf eine gesellschaftliche Teilhabe und Chancengleichheit ist die Förderung der Medienkompetenz bei sozial benachteiligten Kindern und Jugendlichen besonders wichtig. Monika Luginbühl und Corinne Reber sehen hier auch die sozial-, heil- und sonderpädagogischen Institutionen in der Pflicht. Sie beide sind Dozentinnen für Sozial- und Medienpädagogik an der BFF Bern (interkulturelles Bildungszentrum Kompetenz Bildung Bern) und Co-Autorinnen der neu überarbeiteten → Broschüre von Jugend und Medien, die sich an ebendiese Institutionen richtet. Die Broschüre soll als Leitfaden für eine medienpädagogische Standortbestimmung dienen und Impulse für die Erarbeitung eines Konzeptes im Umgang mit digitalen Medien liefern.

Oft herrscht Unsicherheit in Bezug auf die eigene Verantwortung und nicht zuletzt auf rechtliche Konsequenzen.

Monika Luginbühl, BFF Bern

Unsicherheiten lassen Institutionen zögern

Damit will die Broschüre auch eine Lücke füllen, wie Monika Luginbühl erklärt: «Auch wenn es kein neues Thema ist, gibt es wenig konzeptuelle Grundlagen oder praktische Herangehensweisen, an denen sich die Einrichtungen orientieren können. Darum herrscht oft Unsicherheit in Bezug auf die eigene Verantwortung und nicht zuletzt auf rechtliche Konsequenzen.» Sozial-, heil- und sonderpädagogische Institutionen bewegen sich in einem Spannungsverhältnis zwischen den Persönlichkeitsrechten der Heranwachsenden, der eigenen Aufsichts- und Obhutspflicht sowie derjenigen der Eltern. Wie also ist die Verantwortung zwischen der Einrichtung und den Eltern geregelt? Inwiefern darf der Online-Zugang durch die Einrichtung kontrolliert oder eingeschränkt werden? Was ist mit Blick auf den Datenschutz und den Umgang mit Bildern zu beachten? Und wann machen sich Heranwachsende strafbar (z.B. wenn es um Pornografie oder Cybermobbing geht)? Diese und andere Fragen müssen geklärt werden. Die Broschüre fasst dazu mit einem erweiterten Kapitel zum Thema Recht (verfasst von Rahel Heeg von der FHNW) die wichtigsten Punkte zusammen.

Hinzu kommen aber auch andere Herausforderungen für die Einrichtungen, so Corinne Reber: «Auf allen Ebenen ist die Heterogenität gross: Im Team in Bezug auf Haltungen und Kompetenzen, bei den Kindern und Jugendlichen in Bezug auf Fähigkeiten und Nutzungsweisen und bei den Eltern in Bezug auf deren Vorstellungen. Ausserdem herrscht ein grosser Druck: Personalmangel und fehlende Ressourcen haben zur Folge, dass oft gerade mal das Tagesgeschäft abgedeckt werden kann.»

Proaktiv und offen agieren

Angesichts der gesellschaftlichen Bedeutung digitaler Medien ist für eine zeitgemässe Einrichtung ein medienpädagogisches Konzept jedoch unabdingbar. Für Monika Luginbühl ist klar: «Einen begleiteten Zugang zu Medien schaffen, beinhaltet Risiken. Die können nicht gänzlich aus dem Weg geräumt werden. Aber keine Medienpädagogik zu machen, ist mit deutlich mehr Risiken verbunden.»

Grundlage für ein medienpädagogisches Konzept ist eine offene, positive Haltung und die Bereitschaft, im Team die eigenen Fähigkeiten, aber auch Vorbehalte und Ängste zu reflektieren. Tabuthemen wie Sexualität und Pornografie müssen dabei genauso angesprochen werden, um sich auf Vorgehensweisen zu verständigen für den Fall, dass etwas passiert. Heute ist es oft umgekehrt: Erst wenn der Ernstfall eintritt, muss reagiert werden. Davor werden die Themen ausgeklammert.

Die Initiative → MEKiS  (Medienkompetenz in der Sozialen Arbeit) hat zum Ziel, Medienkompetenz in der Praxis der Sozialen Arbeit zu fördern. Unter anderem wird ein Leitfaden zur Verfügung gestellt, mit dessen Hilfe in sechs Schritten ein medienpädagogisches Konzept erarbeitet werden kann. Fragebogen in der Broschüre bieten auf diesem Weg zusätzliche, praxisnahe Hilfestellungen.

Ich muss nicht alles erlauben, aber wenn ich das hinter der Nutzung liegende Bedürfnis verstehe, kann ich es wertschätzen.

Corinne Reber, BFF Bern

Interesse zeigen und Bedürfnisse verstehen

Im alltäglichen Umgang mit den Kindern und Jugendlichen ist es laut Corinne Reber insbesondere wichtig, Interesse an deren Mediennutzung zu zeigen. Das kann geschehen, indem man gemeinsam das Lieblingsgame spielt oder sich TikTok-Videos und Instagram-Profile von Influencer*innen anschaut, denen die Heranwachsenden folgen. Und: «Sich dafür zu interessieren bedeutet: Ich bewerte es erst einmal nicht», so Reber. Ein Perspektivenwechsel helfe dabei, die Bedürfnisse der Heranwachsenden besser nachvollziehen zu können: «Ich muss nicht alles erlauben, aber wenn ich das hinter der Nutzung liegende Bedürfnis verstehe, kann ich es wertschätzen.» Auf dieser Basis entsteht das Vertrauen, das essenziell ist für die Begleitung der Heranwachsenden – nicht nur, wenn es um digitale Medien geht.

Nicht zuletzt sollten sich Betreuer*innen immer ihrer Vorbildrolle bewusst sein und ihr eigenes Medienverhalten im Auge behalten. Und schliesslich dürfen die Eltern nicht vergessen werden. Sie einzubeziehen und ihnen Unterstützung zu bieten ist wesentlicher Teil der Medienerziehung. Dabei gilt es besonders, neben den individuellen Voraussetzungen der Kinder und Jugendlichen auch den unterschiedlichen familiären Begebenheiten Rechnung zu tragen.

Unbestritten ist: Medienerziehung in sozial-, heil- und sonderpädagogischen Institutionen ist komplex und beinhaltet einen sich konstant weiterentwickelnden Prozess. Vor allem aber bietet sie die Chance, benachteiligte Kinder und Jugendliche zu einem verantwortungsvollen und sicheren Umgang zu befähigen, ihr Entwicklungspotenzial zu fördern und ihnen neue Erfahrungs- und Freiräume zu ermöglichen.

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Die neue Broschüre «Medienkompetenz in sozial-, heil- und sonderpädagogischen Institutionen» können Sie → hier kostenlos online abrufen oder bestellen.

Weitere Informationen zum Thema finden Sie in unserer Rubrik → «Sonderpädagogik» sowie auf der Webseite www.mekis.ch 

Bettina Bichsel ist Journalistin und Texterin. Sie schreibt und bloggt unter anderem für Jugend und Medien.