Nach Cybergrooming: «Hat sich meine Tochter als Herstellerin von Kinderpornografie strafbar gemacht?»

| Ella Müller | Bettina Bichsel

Mit 13 Jahren wurde meine Tochter Opfer eines sexuellen Übergriffs im Internet. Weil sie dem Täter ebenfalls explizite Bilder von sich geschickt hat, kommt zur Scham und Gewalterfahrung nun noch die Angst, sich ebenfalls strafbar gemacht zu haben. Zum Glück ist am 1. Juli 2024 das neue Sexualstrafrecht in Kraft getreten.

Ein Mittwochnachmittag Ende Juni 2024, eine unbekannte Nummer auf dem Display. «Mein Name ist Waser, ich bin von der Kantonspolizei. Sind Sie die Mutter von Lina?» Lina ist 14 Jahre alt und gerade nicht zu Hause. Mein Herz bleibt eine Sekunde stehen. «Ja», bestätige ich. «Ist was passiert?» Die Frau verneint und erzählt. Passiert ist allerdings sehr wohl etwas.

Zu hören, was vorgefallen ist und wie allein mein Kind mit dem immer höher werdenden Druck gewesen war, ist schrecklich. Dass ich sie nicht schützen konnte – furchtbar!

Täter suchte bewusst minderjährige Opfer

Vor einem Jahr, sagt die Polizistin, sei meine Tochter über Snapchat mit einem Mann in Kontakt gelangt, der ihr explizites Bildmaterial zugeschickt habe und dem auch sie Bilder und Videos gesendet habe. Der Mann sei aus einem anderen europäischen Land und mittlerweile in Haft, da er mehrere Minderjährige mit sexuellen Absichten kontaktiert habe. Im Rahmen eines Rechtshilfeersuchens der ausländischen Kolleg*innen sei sie damit beauftragt worden, Lina zu befragen. «Lina wurde mit 13 Jahren Opfer eines Cybergroomers?», stammle ich ins Telefon.

Da ich selbst seit rund zehn Jahren im Bereich Jugendmedienschutz arbeite, kenne ich die Begriffe, die Risiken und die Präventionsmöglichkeiten. Cybergrooming liegt vor, wenn Erwachsene online mit Jugendlichen oder Kindern in Verbindung treten, mit dem Ziel, sexuelle Handlungen vorzunehmen. Oft geben sich die Groomer als Gleichaltrige aus, schaffen ein Vertrauensverhältnis zum kontaktierten Kind, umwerben und überschütten es mit Komplimenten. Sexuelle Handlungen mit Kindern unter 16 Jahren sind verboten, dazu gehört auch, ein Kind dazu zu zwingen, dem Täter beim Masturbieren zuzuschauen oder sich selbst vor der Handykamera sexuell zu berühren.

 

Aus Scham schwieg meine Tochter

Ich habe mit Lina oft über Cybergrooming gesprochen, ihr Anzeichen und Vorsichtsmassnahmen erklärt. Leider hat das nicht gereicht. Als Frau Waser und ich das Telefongespräch beenden, sind tausend Gedanken in meinem Kopf sowie ein Termin in zwei Wochen für Linas Einvernahme bei der Polizei in meinem Kalender.

Der Abend verläuft tränenreich. Voller Scham berichtet Lina mir, was passiert ist (dazu mehr in einem späteren Blogpost), wie der angeblich 16 Jahre alte «Maximilian» ihr zugehört und sie umgarnt habe, wie er bald schon Fotos seines Penis geschickt und im Gegenzug intime Bilder von ihr zurückgefordert habe. «Ich fand es grusig und wollte das alles gar nicht!», sagt Lina.

Sie erzählt, dass sie mich nicht informiert habe, weil sie wusste, dass der Kontakt mit «Maximilian» genau dem Cybergrooming-Muster entsprach, vor dem ich sie wiederholt gewarnt hatte.

Und dann die Angst: Hat sie sich selbst strafbar gemacht?

Zu hören, was vorgefallen ist und wie allein mein Kind mit dem immer höher werdenden Druck gewesen war, ist schrecklich. Dass ich ihr nicht helfen und sie nicht schützen konnte – furchtbar! Lina und ich sind uns einig, dass wir mit ihren Aussagen dazu beitragen wollen, die Ermittlungen gegen den Täter zu unterstützen und hoffen, dass mehr Informationen zu seinem Vorgehen sein Strafmass beeinflussen können.

Irgendwann fällt mir ein: Obwohl Lina Opfer ist, hat sie sich womöglich mit dem Versand der Aufnahmen ihres Intimbereichs selbst der Herstellung und Verbreitung von Kinderpornografie strafbar gemacht! Macht es dann Sinn, gegenüber der Polizei alle Details offenzulegen? Schliesslich meinte Frau Waser, Lina müsse nichts preisgeben, mit dem sie sich selbst belasten würde. Handkehrum ist auch klar, dass die Aussage ohne diese Angaben viel weniger brauchbar ist für die Ermittlungen. Lina weint erneut, als ich sie über diesen Aspekt informiere. «Dass das verboten ist, wusste ich nicht! Ich will nicht, dass in meiner Akte steht, ich hätte etwas mit Kinderpornografie am Hut», sagt sie. Zur Scham, zum Ausgenutzt-Fühlen, zur Gewalterfahrung kommt nun noch Angst dazu. Ich bin nicht sicher, ob sie die Einvernahme schaffen wird und vereinbare einen Termin mit einer Kinderpsychologin.

Neues Sexualstrafrecht bringt Erleichterung

Am nächsten Tag hat Lina Fieber, mehrere Tage bleibt sie im Bett. Ich rufe meine Rechtsschutzversicherung an, um mich beraten und allenfalls vertreten zu lassen. Obwohl ich das grösstmögliche Versicherungspaket abgeschlossen habe, blitze ich ab. «Es tut mir leid, wir würden Ihnen und Ihrer Tochter wirklich gerne helfen», erklärt der hörbar betroffene Jurist. «Aber da Ihre Tochter vorsätzlich gehandelt hat, ist der Fall nicht gedeckt.» Er kenne sich nicht gut aus mit dem Thema, gibt er zu. «Aber meiner Erfahrung nach hat ihre Tochter nichts zu befürchten. Sie sagt ja als Geschädigte bei der Polizei aus.» Der Jurist gibt mir den Kontakt eines Anwalts, mit dem die Versicherung zusammenarbeitet, und meint, dieser würde mir kostenlos Rechtsauskunft geben. Ich schildere ihm den Fall per Mail.

Mittlerweile ist der Juli 2024 angebrochen und damit die Revision des Sexualstrafrechts in Kraft getreten. Ich recherchiere dazu und finde heraus: Obwohl Änderungen im Strafrecht nur für Taten, die nach diesem Datum begangen werden, gelten, gibt es eine Ausnahme: Ist das neue Recht für Beschuldigte – in diesem Fall also für meine Tochter als potentielle Täterin im Zusammenhang mit Kinderpornografie – milder, so kommt dieses zur Anwendung. Minderjährige, die Nacktbilder versenden, kommen damit ab dem 1. Juli straffrei davon. Ich schreibe dem Anwalt nochmals und frage, ob ich das alles richtig verstanden habe. Er bestätigt und bedankt sich für den Hinweis. Die Last, die Lina und mich die letzten Tage fast erdrückt hat, wird etwas leichter. Zusammen mit der Kinderpsychologin beginnen wir, uns auf die Einvernahme vorzubereiten.

Sämtliche Namen und einige Details wurden zur Anonymisierung geändert oder weggelassen.

Was überhaupt passiert ist und wie es Lina bei der Einvernahme erging, lesen Sie in einem nächsten Blogbeitrag.

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Unsere Tipps für Eltern

  • Klären Sie über mögliche Risiken auf und schimpfen Sie nicht mit Ihrem Kind, wenn etwas passiert ist, z. B. wenn es ein sexy Foto verschickt oder einer fremden Person die Telefonnummer verraten hat. Ihr Kind soll wissen, dass es immer auf Sie zukommen und auf Ihre Unterstützung zählen kann.
  • Social Media- oder Messenger-Anbieter legen oft ein Mindestalter von 13 Jahren fest. Wenn ein Kind das erste Mal einen solchen Dienst einrichtet, ist es wichtig, das Profil gemeinsam zu erstellen und darüber zu sprechen, mit wem das Kind private Nachrichten austauschen darf und wann Vorsicht geboten ist.
  • Vermitteln Sie Ihrem Kind: Wenn ein Absender unbekannt ist, sollte man nicht auf Nachrichten antworten. Personen, die sich unangemessen verhalten, sollen blockiert werden.
  • Offene Gespräche über Sexualität fördern auch ein Gespür für die eigenen Grenzen. Durch altersgerechte Gespräche und das Beantworten von Fragen können Eltern ihren Kindern helfen, ein positives Verhältnis zu ihrer eigenen Sexualität aufzubauen und ihre Grenzen zu erkennen und zu respektieren.
  • Jugendliche sollten sich darüber im Klaren sein, dass ein Foto oder Video ungewollt verbreitet und manipuliert werden kann. Raten Sie Ihrem Kind davon ab, Bilder oder Videos, die es nackt oder in erotischen Posen zeigen, zu verschicken oder online zu veröffentlichen. Jugendliche, die dennoch in einem sicheren Setting Nacktfotos machen möchten, sollten darauf achten, dass das Gesicht oder andere persönliche Merkmale nicht zu erkennen sind. Und in diesem Fall ist es wichtig, dass sich die Jugendlichen des rechtlichen Rahmens und der Risiken bewusst sind, die mit dem Versenden dieser Bilder verbunden sind.
  • Als Eltern sollten Sie sich ausserdem bewusst sein, dass das Teilen von Fotos Ihrer Kinder potenzielle Missbrauchsmöglichkeiten schafft.

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Text: Ella Müller, Tipps: Bettina Bichsel

Ella Müller heisst in Wirklichkeit anders. Die Mutter von zwei Jugendlichen liebt Zeitungen, Kaffee und den Sommer.

Bettina Bichsel ist Journalistin und Texterin. Sie schreibt und bloggt unter anderem für Jugend und Medien.