Radikalisierung: Ausgrenzungen in der Klasse können gefährlich sein

| Bettina Bichsel

Wie kann das sein? Das ist die Frage, die sich viele stellten, nachdem ein 15-Jähriger Anfang März einen jüdisch-orthodoxen Mann in Zürich angegriffen und schwer verletzt hatte. Oder nach den jüngsten Verhaftungen von Jugendlichen wegen Terrorverdachts. Wie kann es sein, dass sich junge Menschen so radikalisieren? Und welche Rolle spielt das Internet?

Radikalisierungen werden zu unterschiedlichsten Gruppierungen hin beobachtet – wie in all diesen jüngsten Fällen im Bereich des islamistischen bzw. dschihadistischen Extremismus, aber auch an den Enden des rechten und linken Spektrums sowie im Zusammenhang mit Hooliganismus oder religiösen Sekten. Im → nationalen Aktionsplan zur Verhinderung und Bekämpfung von Radikalisierung und gewalttätigem Extremismus wird Radikalisierung grundsätzlich als Prozess definiert, «bei dem eine Person immer extremere politische, soziale oder religiöse Bestrebungen annimmt, allenfalls bis hin zum Einsatz von extremer Gewalt, um ihre Ziele zu erreichen».

Die Medienberichte über den gewalttätigen Angriff in Zürich und die Festnahmen in der West- und Ostschweiz hatten die Schweiz erschüttert. Es gibt Vermutungen, dass die Jugendlichen zum Teil auch in Kontakt zu anderen Verhafteten in verschiedenen europäischen Ländern standen. Sie sollen sich über Internet-Chats und soziale Netzwerke, in denen extremistische Bewegungen agieren, ausgetauscht haben, bis hin zur Planung möglicher Anschläge.

In der Anfangsphase können kritische Fragen noch gehört und Zweifel ausgelöst werden. Später wird der Zugang immer schwieriger.

Daniele Lenzo, Krisenambulanz Schweiz

Was gefährdete Jugendliche bei extremistischen Gruppen finden

Aber, und damit sind wir wieder bei unserer Ausgangsfrage: Wie kommt ein solcher Prozess überhaupt in Gang? Was geht in den Jugendlichen vor, dass sie sich von extremistischen Parolen und Inhalten angesprochen fühlen und immer weiter in diesen Sog geraten?

Sicher ist: Radikalisierungsprozesse sind immer individuell und damit sehr unterschiedlich. Es gibt nicht den einen ausschlaggebenden Faktor, sondern verschiedene Aspekte, die zusammenkommen. Dennoch werden im Gespräch mit Daniele Lenzo, Inhaber und Fachexperte der Krisenambulanz Schweiz, drei Elemente deutlich, die den Verlauf einer Radikalisierung prägen:

1. Suche nach Identität und Zugehörigkeit

Die Identitätsfrage und das Bedürfnis nach Zugehörigkeit spielen im Jugendalter eine grosse Rolle. In dieser Entwicklungsphase suchen Jugendliche ihren Platz in der Gesellschaft und versuchen herauszufinden, wer sie sind und was sie im Leben erreichen möchten. Wenn sie dieses Gefühl der Zugehörigkeit anderswo nicht finden, können extremistische Gruppen attraktiv werden. Diese Gruppen bieten oft ein einfaches Weltbild, das die komplexe Realität in Gut und Böse aufteilt. Zudem vermitteln sie ein starkes Gemeinschaftsgefühl, das Halt und Orientierung bieten kann.

2. Erleben von Enttäuschung und Ohnmacht

Wer soziale Probleme hat, Diskriminierungen erlebt oder mit einer gescheiterten Bildungsbiografie zu kämpfen hat, fühlt sich oft ohnmächtig und ausgegrenzt, oder das eigene Selbstwertgefühl ist vermindert. Ein solches Erleben kann dazu führen, dass extremistische Botschaften Anklang finden. Durch klare Schuldzuweisungen und einfache Lösungen bieten sie nicht zuletzt eine Antwort auf die erfahrene Ungerechtigkeit.

3. Einfluss extremistischer Ideologien

Vor allem im Internet ist es einfach, auf extremistische Inhalte zu stossen. Ist man einmal drin, gerät man rasch immer tiefer in eine Blase, in der wenig anderes mehr verbreitet wird. Die Schein-Anonymität, die das Netz bietet, senkt zudem die Schwelle, sich einzubringen. Aber auch offline kann – beispielsweise über Veranstaltungen – ein Kontakt zu Gleichgesinnten entstehen, der eine Radikalisierung beschleunigt. Jugendliche suchen sich oft Vorbilder, an denen sie sich orientieren können. Immer wieder gehörte Hassbotschaften und gesehene Propaganda verzerren das Weltbild und entmenschlichen die vermeintlichen Feinde.

Überzeugungen werden bald nicht mehr in Frage gestellt

Das Wichtigste, um Jugendliche in einem solchen Prozess überhaupt noch zu erreichen, ist laut Daniele Lenzo, früh mit ihnen ins Gespräch zu kommen und den Mut zu haben Veränderungen, sofort und auf der Beziehungsebene anzusprechen: «In der Anfangsphase können kritische Fragen noch gehört und Zweifel ausgelöst werden. Später verfestigt sich die Ideologie aber und der Zugang wird immer schwieriger.»

Jedes Anzeichen einer Veränderung sollte dabei ernst genommen werden. Oft wird beobachtet, dass Jugendliche sich zunehmend isolieren, bisherige Interessen, Hobbys oder die Schule vernachlässigen, ihren Kleidungsstil verändern, „radikale“ Bemerkungen fallen lassen oder irgendwo Symbole hinkritzeln, die auf eine extremistische Gesinnung hindeuten. Daniele Lenzo ist überzeugt: «Wer nah dran ist an den Jugendlichen, bemerkt solche Veränderungen.» Das gilt für Eltern, Geschwister, Lehrpersonen, Peers, Verantwortliche in den Jugendtreffs oder Trainer*innen in Sportvereinen etc..

Die Arbeit der Krisenambulanz setzt meist in der Schule an, wenn etwas Auffälliges geschieht – wie vor kurzem, als ein Schüler bei einem Klassenfoto-Termin den Hitlerschnauz nachahmte. «Es darf nicht sein, dass solche Vorfälle als jugendlicher Leichtsinn abgetan werden», sagt Daniele Lenzo. «Vielmehr ist es wichtig, die Hintergründe zu beleuchten und mit allen Beteiligten – Schüler*innen, Eltern, Schulleitung und Lehrpersonen – ins Gespräch zu kommen.»

Wichtig ist es, die Jugendlichen mit dem Geschehenen zu konfrontieren

Um einen ersten Überblick zu erhalten, geschehen zwei Dinge:

  • In einer Online-Umfrage wird abgefragt, auf welchen Kanälen und Plattformen im Internet sich die Jugendlichen bewegen. Denn nur wer versteht, wie die Realität der Heranwachsenden aussieht, wofür sie sich interessieren und was ihnen wichtig ist, kann auch auf Augenhöhe mit ihnen ins Gespräch kommen. Sonst ist schnell klar: Der/die hat eh keine Ahnung.
  • Ein Soziogramm gibt Hinweise auf die Dynamiken innerhalb einer Schulklasse: Wer ist wie eingebettet im Klassenverbund? Wer sind die Klassenleader, wer ist Mitläuferin und wer eher Aussenseiter? Haben alle eine Bezugsperson, einen Freundeskreis? Gibt es Ausgrenzungen oder weitere Auffälligkeiten im Klassenverbund, die ein Anzeichen dafür sein können, dass sich jemand abgehängt oder missverstanden fühlt? Solche Tendenzen aufzuzeigen, Verständnis dafür zu wecken und Prozesse einzuleiten, um die Betroffenen wieder zu integrieren, sind enorm wichtig, um eine allfällige weitere Radikalisierung zu verhindern.


Natürlich ist ein Vorkommnis nicht immer Teil einer Radikalisierung. Manchmal wird nicht nachgedacht oder Jugendliche denken, was sie machen, sei cool. Umso wichtiger ist es, sie mit dem Geschehenen zu konfrontieren: Wie kommt es überhaupt dazu? Was steckt dahinter? Was wissen die Jugendlichen über den Nationalsozialismus, über islamistische Gruppierungen oder den Nahostkonflikt?

Oft wird deutlich, dass die Jugendlichen gar nicht wissen, welchen Informationen sie Glauben schenken können.

Daniele Lenzo

Medienkompetenz als wichtiger Teil der Prävention

Solche Gespräche bilden für Daniele Lenzo und sein Team immer die Chance, Jugendliche von einer Radikalisierung abzuhalten: «Es geht ja auch darum, Fehlinformationen zu entlarven und Fakten darzulegen. Extremistische Propaganda schafft immer ein Feindbild. Das muss aufgelöst werden – gemeinsam mit den Jugendlichen. Oft, wenn wir mit ihnen reden, wird deutlich, dass sie gar nicht wissen, welchen Informationen sie Glauben schenken können.»

Medienkompetenz ist ein Aspekt, wenn es um Radikalisierungsprävention geht. Hinzu kommen Massnahmen zur Integration und Bekämpfung von Diskriminierung, Aufklärungsarbeit rund um Rassismus und Extremismus, aber auch die Stärkung des familiären Umfelds sowie möglichst einfach zugängliche Anlaufstellen, etwa für besorgte Eltern.

Und: Aktionen wie der symbolische Hitlerschnauz auf dem Klassenfoto müssen Konsequenzen haben. Konkret bedeutet das in der Regel, dass die Polizei eingeschaltet wird und es zu einer Anzeige kommt. Selbst wenn das nicht zu einer strafrechtlichen Verurteilung führt, ist damit zumindest das Zeichen gesetzt, dass eine Grenze überschritten wurde und dies nicht toleriert wird.

Überhaupt ist Zivilcourage ein Schlüsselwort – online genauso wie offline. Digitale Medien mögen manchmal das Bild vermitteln, dass man alles sagen, posten, liken oder weiterverbreiten kann, ohne dass dies Folgen hätte. Aber das Internet ist kein rechtsfreier Raum. Auch hier gilt immer wieder: reagieren und Haltung zeigen, Desinformationen anprangern, Anzeige erstatten.

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Weitere Informationen zum Thema finden Sie in unserer Rubrik → Extremismus & Radikalisierung.

Bettina Bichsel ist Journalistin und Texterin. Sie schreibt und bloggt unter anderem für Jugend und Medien.