«Rund um Sexualität fühlen sich viele Jugendliche sehr einsam»

| Bettina Bichsel

Sexfluencer*innen sprechen offen über Lust und Frust, Pornos sind nur einen Klick entfernt und die Anonymität des Netzes bietet den Raum für alle Fragen, die auf der Zunge brennen. Das Internet spielt für Heranwachsende eine grosse Rolle, wenn es um Sexualität und Aufklärung geht. Braucht es da die Eltern noch? Und ob!

Für viele Eltern ist es nicht das einfachste Gesprächsthema mit ihren Kids. Und spätestens, wenn die Pubertät einsetzt, sind Mama oder Papa für die Jugendlichen nicht mehr unbedingt die ersten Ansprechpartner, wenn’s um all die Fragen rund um das geht, was neugierig macht, faszinierend und zugleich verunsichernd ist. Früher waren Bravo-Magazine und Porno-Heftchen die Anlaufstelle für Antworten, heute ist es das Internet.

Es sind Fragen, die viele Jugendlichen nicht in der Klasse oder ihren Eltern stellen würden.

Annette Bischof-Campbell, Psychotherapeutin und Geschäftsleiterin von Lilli

Von Wikipedia und Sexfluencer*innen

Wie stark die Bedeutung des Internets in Bezug auf die sexuelle Aufklärung in den letzten Jahren zugenommen hat, zeigt eine Studie aus Deutschland (BzGA, 2021/2022): Waren es 2001 noch 3 Prozent der 14- bis 17-jährigen Mädchen und 10 Prozent der Jungs, die online nach Informationen suchten, stieg der Anteil bis 2019 auf 56 Prozent (Mädchen) bzw. 60 Prozent (Jungs).

Hauptsächlich googeln die Jugendlichen, um das zu finden, was sie interessiert. Oft geht es darum, vertiefte Informationen zu finden, wie sie selbst sagen. Also Fragen zu klären, die im schulischen Sexualkundeunterricht oder im Gespräch mit anderen angestossen wurden. Aufklärungs- und Beratungsseiten sind wichtig, aber auch Wikipedia wird konsultiert. Ausserdem werden soziale Medien gerade für jüngere Jugendliche immer wichtiger, vor allem für Mädchen. Jede fünfte 14- bis 17-Jährige hat gemäss Studie angegeben, dass sie von Influencer*innen interessante Dinge erfahren hat. Da die Befragung 2019 stattfand, kann es gut sein, dass diese Zahlen noch gestiegen sind. Allein deshalb, weil auch immer mehr Sexfluencer*innen aktiv sind – und weil vor allem die Bedeutung von TikTok (nicht zuletzt seit Corona) noch mal rasant gestiegen ist.

Pornos als Aufklärungsquelle?

Besonders für Jungen sind ausserdem Sexfilme wichtig. Unter den 14-Jährigen gab fast jeder dritte Jugendliche an, sich in Filmen zu informieren. In der gesamten Altersgruppe bis 17 Jahren waren es insgesamt 37 Prozent (gegenüber 16 Prozent bei Mädchen).

Was genau mit Sexfilmen gemeint ist, wird nicht näher ausgeführt. Sicher ist, dass auch der Zugang zu Pornos durch das Internet so einfach geworden ist wie nie. In der Schweizer JAMES-Studie (ZHAW, 2022) gaben unter den 12- bis 19-Jährigen 73 Prozent der Jungen und 32 Prozent der Mädchen an, schon mal einen Porno gesehen zu haben. Zur Frage, wie regelmässig Jugendliche in der Schweiz sich auf einschlägigen Portalen tummeln und was genau sie sich bevorzugt anschauen, fehlen allerdings eingehendere Untersuchungen.

Aber Pornos zur Aufklärung? Da läuten bei vielen Erwachsenen natürlich die Alarmglocken.

Wichtig ist zum Beispiel, dass Eltern den Unterschied zwischen der Vulva und der Vagina kennen.

Annette Bischof-Campbell

Fragen über Fragen

Fakt ist: Jugendliche haben Fragen, auf die sie Antworten suchen. Sie sind neugierig und wissbegierig. Was sie brauchen, wenn sie dann ins Internet gehen, sind gute Anlaufstellen.

Vor diesem Hintergrund wurde 2001 → «Lilli» ins Leben gerufen, als Online-Beratung mit dem Ziel eines niederschwelligen Angebotes und zur Förderung der sexuellen Gesundheit von Jugendlichen (und Erwachsenen).

Wer eine Frage hat, tippt sie in ein Formular, ohne Angaben zu sich machen zu müssen. Um die Antwort zu finden, erhalten die Fragenden jeweils eine Nummer, die sie in die Suche der Website eingeben können. 3‘000 Fragen sind öffentlich einsehbar, ältere Fragen landen im Archiv.

Wer sich durch die Fragen klickt, erhält einen Einblick in die Gedanken und Sorgen von Heranwachsenden. Da werden Fragen gestellt wie:

«Ab welchem Alter darf man sich selbst befriedigen?»

«Ich bin traurig, weil ich so kleine Brüste habe. Fühle mich so anders dadurch. Ist das wirklich so ungewöhnlich?»

«Ich ekel mich davor, mit anderen intim zu werden. Was könntet ihr mir empfehlen, um mir die "Angst" zu nehmen und mit meiner eigenen Sexualität vertrauter zu werden?»

«Wie wichtig ist Selbstbewusstsein im Leben generell und bezogen auf das Dating? Wie kann man mehr an sich glauben und sein Selbstbewusstsein generell erhöhen?»

«Ich bin weiblich und frage mich, wieso ich beim Oralverkehr nichts spüre.»

«Ich bin schon länger auf der Suche nach einer Lösung für meinen vorzeitigen Samenerguss, allerdings ohne Erfolg. Ich hoffe, ihr kennt eine Lösung.»

«Geht eine Gefahr vom Lusttropfen für eine Schwangerschaft aus, wenn dieser erst nach einer gewissen Zeit direkt in die Vagina befördert wird?»

Anonymität als Vorteil

So unterschiedlich die Themen sind, gibt es bei den meisten Fragen doch einen gemeinsamen Nenner, wie Annette Bischof-Campbell, Psychotherapeutin und Geschäftsleiterin von Lilli, sagt: «Es sind Fragen, die viele Jugendlichen nicht in der Klasse oder ihren Eltern stellen würden. Rund um Sexualität fühlen sich viele sehr einsam – gerade Jugendliche, weil sie in einem Alter sind, in dem ohnehin alles peinlich ist.»

Umso wichtiger ist die Anonymität von Beratungsplattformen wie lilli.ch. Aber noch etwas anderes fällt auf, wenn man die Fragen durchliest: Die meisten Jugendlichen schreiben sehr ausführlich. Es wird klar, wie stark sie das jeweilige Thema beschäftigt. Und dass sie meist vorab schon zum Thema recherchiert haben.

«Viele schreiben sehr reif und detailliert», bestätigt Annette Bischof-Campbell. «Da ist zum Beispiel ein Junge mit einer Vorhautverengung. Aus seinem Text wird klar, er hat etwas dazu gelesen. Rein theoretisch steht durch das Internet ein grösseres Wissen zur Verfügung als früher. Aber wenn es um die Einordnung und den praktischen Umgang geht, fehlen die Hilfestellungen.»

Hier wird klar, welche wichtige Rolle Eltern oder auch Lehrpersonen in der Aufklärung immer noch spielen. Denn die schiere Menge an Informationen, die sich im Internet findet, aber auch die unterschiedlichen Ansichten und Ratschläge sind verwirrend und verunsichern. Erwachsene können Jugendlichen helfen, sich in diesem Dschungel zurechtzufinden.

Tipps für Eltern

  • Sexualität gehört zum Menschsein. Kinder fangen schon als Babys an, sich selbst zu entdecken und zu stimulieren. Versuchen Sie, offen zu sein für Fragen, die auftauchen, und eine altersgerechte Sprache zu finden. Gespräche über Sexualität fördern die gesunde sexuelle Entwicklung und schaffen einen vertrauensvollen Raum, in dem auch Peinliches oder Schamvolles eher angesprochen wird.
  • Sich selbst aufzuklären steht für Annette Bischof-Campbell an erster Stelle: «Wichtig ist zum Beispiel, dass Eltern den Unterschied zwischen der Vulva und der Vagina kennen.» Sie animiert Eltern ausserdem dazu, Geschlechtsteile beim Namen zu nennen, statt von «Schnäbi und Schnäggli» zu reden.
  • Vermitteln Sie Medienkompetenz: Woran erkennt man gute Quellen? Rund um Aufklärung und Sex-Tipps können sich Jugendliche Fragen stellen wie: Sind es Fachpersonen wie Sexualpädagog*innen, Psychotherapeut*innen oder Ärzt*innen, die Informationen und Ratschläge teilen? Oder sind es Menschen ohne eine fachliche Ausbildung, die einfach über ihre eigenen Erfahrungen sprechen?
  • Wenn das Thema Sexualität Sie sprachlos macht, können Sie auch altersgerechte Bücher in der Wohnung platzieren, die Ihre Kinder finden. Ausserdem finden Sie weitere Informationen und Links in unserer Rubrik → Internet & Sexualität.

 

Bettina Bichsel ist Journalistin und Texterin. Sie schreibt und bloggt unter anderem für Jugend und Medien.