TikTok: Was ist dran an der aktuellen Suchtdebatte?

| Bettina Bichsel

Rund um TikToks neue Lite-App hat sich die Diskussion um das Suchtpotenzial von Social-Media noch verstärkt. Worum genau geht es und was wissen wir über Suchtmechanismen sozialer Netzwerke?

Die digitale Aufmerksamkeit von Nutzer*innen ist ein wertvolles Gut, der Markt hart umkämpft. Wer mit seinen Diensten die Aufmerksamkeit von möglichst vielen erreichen und halten will, muss sich etwas überlegen.

Im Bereich von Social-Media gehört TikTok zweifellos zu den beliebtesten Plattformen: Weltweit nutzen rund 1,6 Milliarden Menschen den Kurzvideo-Dienst. Cleveres Marketing und vor allem ein gewiefter Algorithmus haben das Portal des chinesischen Unternehmens ByteDance dahin gebracht. Was also ist nun anders?

TikTok Lite und sein Belohnungssystem

Die aktuelle Debatte, die von der EU auch in die Schweiz geschwappt ist, bezieht sich auf die neue App TikTok Lite. In Asien und anderen Teilen der Welt ist sie schon seit ein paar Jahren verfügbar, in Europa wurde sie dieses Frühjahr in Frankreich und Spanien auf den Markt gebracht.

«Lite» bedeutet in der Regel, dass es sich um eine abgespeckte Version der eigentlichen App handelt. Im Falle von TikTok ist dies nicht anders. So weit, so unproblematisch. Was die Kritiker*innen auf den Plan gerufen hat, ist ein besonderes, integriertes Belohnungssystem. Das gibt mir als Nutzerin digitale Münzen, wenn ich mich z.B. täglich einlogge, Videos schaue und like oder andere User*innen anwerbe. Die Münzen wiederum kann ich in Gutscheine oder Geschenkkarten umwandeln. Kurz: Je mehr Zeit ich mit TikTok Lite verbringe, desto eher kann ich mir etwas kaufen.

Genau darum hat die zuständige EU-Kommission eingegriffen und ein Verfahren eingeleitet. Sie sieht vor allem Kinder und Jugendliche der Gefahr ausgesetzt, durch dieses Anreizsystem süchtig zu werden. Grundsätzlich steht TikTok Lite nur Erwachsenen ab 18 Jahren offen, die Altersverifzierung kann jedoch von Kindern und Jugendlichen umgangen werden. TikTok hat inzwischen die Belohnungsfunktion vorübergehend deaktiviert.

Bei Kindern und Jugendlichen ist der Bereich im Gehirn, der für die Selbstkontrolle zuständig ist, noch nicht vollständig ausgebildet.

Anne-Linda Camerini, Universität Lugano

Anreiz-Mechanismen wie bei Games

Die Frage, inwiefern Social Media süchtig machen können, ist nicht neu. Und wissenschaftlich gibt es darauf keine klare Antwort. Laut Anne-Linda Camerini, die im Bereich Kommunikationswissenschaften an der Universität Lugano forscht und unterrichtet, hängt dies nicht zuletzt damit zusammen, dass «theoretisch fundierte, methodisch valide und durch Peer-Review-Verfahren unabhängig bewertete Studien» zeitlich aufwendig sind. Wie sie in einem → Beitrag von SMC, dem deutschen Science Media Center, sagt, hinke die Forschung deswegen gerade im Bereich der sozialen Medien chronisch hinterher.

Zugleich weist Anne-Linda Camerini auf allgemeine Erkenntnisse der Suchtforschung hin, die zeigen, dass «Kinder und Jugendliche erhöhte Risikogruppen sind, da bei ihnen der Bereich im Gehirn, der für die Selbstkontrolle zuständig ist, der präfrontale Cortex, noch nicht vollständig ausgebildet ist.»

Das Belohnungssystem von TikTok Lite vergleicht sie mit anderen Strategien insbesondere aus dem Gaming-Bereich, die zum Ziel haben, Spieler*innen zum Weitermachen zu animieren. Es geht um Anreize, Challenges, Gewinnversprechen, die ganz spielerisch daherkommen, darum spricht man auch von Gamification-Elementen. Das Sammeln von Credits (wie die Münzen bei TikTok Lite), mit denen dann eben etwas erworben werden kann, ist weit verbreitet. Im Gegensatz zu sozialen Medien ist Gaming als Suchtfaktor offiziell anerkannt. Computerspielsucht wird seit 2022 von der Weltgesundheitsorganisation als Krankheit im ICD-11-Katalog aufgeführt.

Wann wird Nutzung problematisch?

Die aktuellste → HBSC-Studie hat 11- bis 15-jährige Jugendliche in der Schweiz zu ihrem Online-Verhalten befragt und dabei einen Fokus auf Gaming und Social Media gelegt, um herauszufinden, wie verbreitet ein problematisches Nutzungsverhalten ist.

Dabei spielte u.a. eine Rolle, ob die Jugendlichen:

  • soziale Netzwerke nutzen, um negativen Gefühlen zu entfliehen
  • sich schlecht fühlen, wenn sie soziale Netzwerke nicht nutzen können
  • oft an Social Media denken, auch wenn sie gerade nicht online sind
  • Eltern oder Freund*innen anlügen, wenn es um die Frage geht, wie viel Zeit sie in sozialen Netzwerken verbringen
  • schon mal Streit mit den Eltern wegen der Social-Media-Nutzung hatten
  • zwar immer wieder versuchen, weniger Zeit auf Social-Media-Kanälen zu verbringen, es aber nicht schaffen
  • die Schule oder andere Freizeitaktivitäten vernachlässigen


Aufgrund der Antworten hält die Studie das Social-Media-Nutzungsverhalten von rund 7 Prozent der Jugendlichen für problematisch. Besonders stark betroffen waren Mädchen.

Tipps für Eltern

Wichtig für Sie als Eltern: Nur weil Ihr Kind intensiv TikTok oder andere Social-Media-Kanäle nutzt, heisst dies noch nicht, dass es süchtig ist. Suchen Sie das Gespräch, um herauszufinden, woher die Faszination kommt. Bleiben Sie zudem aufmerksam und achten Sie auf Verhaltensänderungen. Wenn Ihr Kind:

  • sich immer mehr zurückzieht und den Kontakt zu Freund*innen, aber auch das Familienleben vernachlässigt,
  • in der Schule nicht mehr mitkommt und schlechtere schulische Leistungen zeigt,
  • oft übermüdet ist und
  • sich nicht mehr für Offline-Aktivitäten interessiert,


sollten Sie Ihre Sorgen und Ängste äussern und gemeinsam nach Lösungen suchen. Auch externe Hilfe kann eine gute Möglichkeit sein – nicht zuletzt, wenn das Thema oft zu Streit führt.

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Anlaufstellen, weitere Informationen und Empfehlungen rund um das Thema finden Sie in unserer Themenrubrik → Onlinesucht.

Bettina Bichsel ist Journalistin und Texterin. Sie schreibt und bloggt unter anderem für Jugend und Medien.