«Wenn ich violette Sneakers trage, machen mich die Jungs fertig»

| Noëmi Pommes

Trotz versuchter genderneutraler Erziehung erlebt mein 12-jähriger Sohn auf Social Media und in seinem Umfeld Beispiele schädlicher und falsch verstandener Männlichkeitsideale: Jungs sollen stark, hart und muskulös sein und ja keine Mädchenfarben tragen. Die Lösung? Ein holpriger Weg – aber er führt aufwärts.

«Eigentlich gefallen mir die hier.» Mein Sohn dreht im Sportgeschäft einen Sneaker in seiner Hand. Er ist weiss, bei der Sohle hat er einen silbrig-violetten Streifen. Auch das Innenfutter ist violett. «Eigentlich?», frage ich zurück, obwohl ich die Antwort schon kenne. Mein Sohn stellt den Schuh ins Regal zurück. «Ja, die sind cool. Aber wenn ich mit denen in die Schule gehe, machen mich die anderen fertig.»

Violett und Pink sind die Lieblingsfarben meines Sohnes. Die seines Vaters sind Pink und Türkis. Der Apfel und der Stamm vermutlich – plus 33 Jahre Altersunterschied. Während sein Papa heute selbstbewusst mit pinkem Rucksack rumläuft, hüllt sich unser 12-Jähriger nur dann in seine Lieblingsfarben, wenn wir weit weg von zu Hause sind. Am besten sogar im Ausland. Dann nämlich, wenn ihn keiner aus seiner Klasse sehen kann.

Auch in Filmen, Büchern und sozialen Medien ist der Held meistens ein muskulöser Tough Guy.

Konkurrenzdynamik unter den Jungs

In seiner Klasse – wie wohl in jeder Klasse – gibt es unter den Jungs starke Gruppen- und Konkurrenzdynamiken. Es ist wichtig, der Coolste, der Stärkste, der beste Fussballer etc. zu sein. Wer in diesen Bereichen überzeugt, hat ein hohes Standing. Schön zeichnen zu können, hilfsbereit oder gut in der Schule zu sein, zählen dagegen kaum, im Gegenteil kann einen das in der Beliebtheitsskala sogar nach unten fallen lassen. Mein Sohn ist zu lieb, empathisch, reflektiert, vielleicht auch zu feministisch erzogen, um im Coolness-Ranking einen der vorderen Plätze zu besetzen. Nicht schlimm, aber doch verständlich, dass er alles tut, um nicht weiter zurückzufallen. Sich beim Turnschuhkauf nicht nach den eigenen Wünschen zu richten, sondern den Klassenleadern zu folgen, ist da noch ein harmloses Beispiel.

Natürlich sind nicht alle Jungs in seiner Klasse so, und selbst diejenigen, die in der Gruppe als Macker auftreten, haben privat eine andere Seite. Ich weiss das, weil ich die Mutter des «Ober-Machos», nennen wir ihn Alex, kenne und ungefähr weiss, welche Werte sie ihm mitgibt. Wenn die beiden Jungs zu zweit sind, fernab vom Sichtfeld ihrer Kollegen, verstehen sie sich richtig gut und das ständige Konkurrieren ist wie ausgeschaltet. Wahrscheinlich wären dann auch pinke Pullis und lila Schuhe kein Problem.

Mein Sohn darf schwach sein, Angst haben, Nagellack tragen

Von klein auf haben wir Eltern versucht, beide Kinder einigermassen genderneutral zu erziehen und schädliche Geschlechterstereotypen anzusprechen. Wir haben unserem Sohn vermittelt, dass Gefühle wie Angst oder Scham auch für Jungs normal sind, dass Gewalt als Lösungsstrategie nicht in Ordnung ist, dass man nicht immer alles kontrollieren und nicht immer überall der Beste oder Stärkste sein muss. Dass es gut ist, Hilfe anzunehmen und dass Grenzen von anderen immer respektiert werden müssen. Wir haben ihm Puppen gekauft und er durfte die Nägel lackieren. Selbstverständlich darf er weinen und selbstverständlich erhält er dann genauso viel Trost wie seine Schwester. Ich bin sicher, dass Alex’ Eltern ihren Sohn ganz ähnlich begleiten wie wir.

Tough Guys als Vorbilder

Warum also dieses ständige Wetteifern, Runterputzen, Stark-Sein-Müssen? Klar, man darf sich nichts vormachen, es gibt auch heute noch Familien, die ihren Jungs einbläuen, dass echte Männer harte Männer sein müssen. Auch in Filmen, Büchern und sozialen Medien ist der Held meistens ein muskulöser Tough Guy. Selbsternannte «Alpha Males» wie Andrew Tate, die aus ihrem Frauenhass ein Geschäftsmodell machen, erreichen auf Tiktok & Co. nicht nur Teens, sondern auch Kinder, durch deren Körper noch kaum Testosteron fliesst (mehr zu diesem Thema lesen Sie in unserem Beitrag → «Im Prozess des Mann-Werdens lassen wir unsere Jungen ziemlich allein»). «Ja, sicher, kenne ich den», meint mein Sohn, als ich ihn auf Tate anspreche. Er findet dessen frauenverachtenden und aggressiven Inhalte schlimm – wegschauen kann er trotzdem nicht. Und dass er selbst trotz viel Sport kein Sixpack wie die «Alpha Males» hat, nervt ihn.

Sexismus: Bei uns eher kein Problem

Immerhin: Was Frauenfeindlichkeit anbelangt, sehe ich bei meinem Bub kein Problem. Im Gegenteil ist es für ihn klar, dass auch Mädchen Fussball spielen, wütend sein oder eine grosse Klappe haben dürfen. Im sprachlichen Gendern ist er mir sogar überlegen, obwohl diese Expertise zu meinem Beruf gehört. Und wehe, seine Lehrpersonen machen keine Genderpause oder «vergessen» die weibliche Form: da schnellt seine Hand oberlehrermässig in die Höhe und er korrigiert ungefragt das soeben Gesagte. «Schaust du auf Tiktok oder Youtube Inhalte, die sich mit Gleichstellung befassen?», frage ich ihn. Er sieht mich irritiert an und schüttelt den Kopf. «Mama, auf meiner For-You sind fast nur Videos von Gamer*innen, solche über Sport oder mit lustigen Pranks», sagt er. Selten sehe er sexistische oder misogyne Videos wie diejenigen von Tate und seinen Fans. «Dass das absolut nicht in Ordnung ist, versteht sich doch ganz von selbst!»

Klare Kante, aber keine Belehrung

(Soziale) Medien, Filme, Bücher, Kolleg*innen und überhaupt das ganze Umfeld beeinflussen unser Denken und ganz besonders dasjenige von Kindern und Jugendlichen, die sich in einem intensiven Identitätsbildungsprozess befinden. Es ist eine gesamtgesellschaftliche Aufgabe, für Gleichstellung in allen Lebensbereichen zu sorgen. Bis es dereinst hoffentlich so weit ist, lohnt es sich, mit den Kindern und gerade mit Jungs konkrete Situationen durchzusprechen – und wenn nötig auch mal klare Kante zu zeigen. Sexismus und andere Formen von Diskriminierung sind keine Meinungen, die es zu schützen gilt. Bei uns reicht es meistens, meinem Sohn ein Verhalten zu spiegeln und eine Frage zu stellen, wie zum Beispiel: «Wie war das wohl für Hassan, als die Jungs ihm seinen Turnbeutel weggenommen haben?» Oder: «Was dachte wohl Leon, als Alex im Klassenchat verraten hat, dass er in Maria verliebt ist und einige dann mit Lach-Emojis und sexistischen Gifs darauf reagiert haben?» Mit der offenen Ansprache ermöglichen wir es ihm, Situationen und Machtverhältnisse selbst zu hinterfragen und auf elterliche Belehrung zu verzichten. Die Antworten, die ich von meinem Bub erhalte, zeigen nämlich, dass er sich der sozialen Dynamik sehr wohl bewusst ist und dass er sich für seine eventuelle Beteiligung an solchen Macht-Games schämt.

Sich hinzustellen, eine andere Meinung zu vertreten, sich zu solidarisieren, kostet Mut – und niemand muss immer mutig sein, auch Jungs nicht.

Niemand muss immer mutig sein

Ich beobachte, dass mein Sohn meist gut unterscheiden kann, wann er sich für Gerechtigkeit oder für seine Wünsche und Werte einsetzen kann oder will – und wann nicht. Wir diskutieren, ob er auf Alex’ Nachricht zu Leons Verliebtsein einen Kommentar schreiben möchte. «Ich könnte schreiben: ‹Hey, wie ehrenlos, man verrät keine Geheimnisse!›», schlägt er vor, oder: «Na und, Verliebtsein ist doch was Schönes!», entscheidet sich dann aber dagegen. Zu schnell und zu unberechenbar ist ihm die Dynamik im Klassenchat, zu hoch das Risiko, selbst zum Opfer zu werden. Lieber will er mit der Klassenlehrerin darüber sprechen, damit sie das Thema in allgemeiner Art in den Klassenrat bringt. Sich hinzustellen, eine andere Meinung zu vertreten, sich zu solidarisieren, kostet Mut – und niemand muss immer mutig sein, auch Jungs nicht. Ich finde es richtig, im Zweifel bei den Turnschuhen die Zweitliebsten zu nehmen, stattdessen aber – vielleicht auch als Gruppe oder mit Hilfe von Erwachsenen – dafür einzustehen, dass Hassan und Leon nicht fertig gemacht werden.

Tränen sind okay

«Alex hat heute in der Pause geweint, weil er beim Fussball gefoult worden ist und sein Schienbein wehtat», erzählt mir mein Sohn. Ich bin nicht sicher, ob in seiner Stimme eine Spur Schadenfreude mitschwingt. Der «grosse Krieger» weint vor Schmerz? «Ja, das Schienbein ist sehr schmerzempfindlich», antworte ich zurückhaltend. «Ja, schon», erwidert mein Sohn. «Aber gleich weinen? Vor allen anderen?» Ich hole Luft, empört über die Empörung meines Sohnes. «Jedenfalls bin ich dann zu Alex hin und habe ihn gefragt, ob es schlimm sei. Dann habe ich ihm beim Aufstehen geholfen und ihn gestützt, damit er vom Platz humpeln konnte.» Ausatmen. Wir sind wohl nicht am Ziel. Aber doch auf gutem Weg.

Noëmi Pommes ist Medienschaffende und zweifache Mutter, setzt sich beruflich und privat für Inklusion und Diversität ein, regt sich auf über Ungleichbehandlung und Starrköpfigkeit und kompensiert mit Fritten, Singen und Campen im VW-Bus. Zum Schutz ihrer Kinder schreibt sie hier unter einem Pseudonym.