Hände, die einen Laptop schließen

«Ein über 50-Jähriger hat meine Tochter im Internet sexuell missbraucht!»

Mit 13 Jahren wurde meine Tochter Opfer eines Cybergroomers. Nachdem er erwischt und inhaftiert worden ist, muss Lina bei der Polizei aussagen. Zuerst erzählt sie aber mir, was überhaupt vorgefallen ist. Für Eltern ist das Gehörte schwer zu ertragen (Triggerwarnung!).

Mit 13 Jahren wurde meine Tochter Opfer eines Cybergroomers. Nachdem er erwischt und inhaftiert worden ist, muss Lina bei der Polizei aussagen. Zuerst erzählt sie aber mir, was überhaupt vorgefallen ist. Für Eltern ist das Gehörte schwer zu ertragen (Triggerwarnung!).

«Maximilian hat mich auf Snapchat angeschrieben, mir Kompliment um Kompliment gemacht, gesagt, wie hübsch ich sei und wie sehr er mich mag. Aber fast schon ab Tag 1 hat er mir auch Bilder geschickt. Weisst du, Mama, SOLCHE Bilder. Ich fand das so grusig!», erzählt Lina. Es ist ihr furchtbar unangenehm, sie blickt an mir vorbei an die Wand. «Und das war erst der Anfang, danach wurde es noch viel schlimmer.»

Zwei Tage ist es her, seit mich die nette Polizistin angerufen und mich über den ein Jahr zurückliegenden sexuellen Online-Missbrauch an meiner Tochter informiert hat (lesen Sie → hier mehr dazu) und sie zur Aussage aufgefordert hat. «Machen Sie sich keine Sorgen», meinte die Polizistin. «Bei der Einvernahme wird eine Psychologin anwesend sein und Sie dürfen Ihre Tochter auch begleiten, müssen aber während der Befragung mucksmäuschenstill sein.»

Er hat gesagt, er sei 16 Jahre alt und hat mir Fotos von sich geschickt.

Lina, 13

Linas Erzähldruck ist immens

Rund zehn Tage bleiben uns noch bis zur Einvernahme. Und vier Tage bis zum Termin mit der Kinderpsychologin, die mit Lina über das Erlebte sprechen wird. Das war der frühestmögliche Termin, den ich organisieren konnte, und doch dauert es zu lange. Ich spüre: Fast ein Jahr hat Lina alles mit sich alleine ausgemacht und endlich ist das schreckliche Erlebnis kein Geheimnis mehr. Was geschehen ist, muss raus. Und zwar jetzt, bei mir.

Es sei nicht das erste Mal gewesen, dass ein Typ ihr Dickpics geschickt habe, erzählt Lina, und wirkt für einen Moment cool und abgeklärt. Aber «Maximilian» sei weiter gegangen als jeder andere zuvor. Und sie sei mitgegangen.

Lina war 13 – der Täter über 50 Jahre alt

«Er hat gesagt, er sei 16 Jahre alt und hat mir Fotos von sich geschickt. Er hat mir gefallen, blond war er und sportlich», erzählt Lina. Heute wissen wir: «Maximilian» heisst ganz anders, ist über 50 Jahre alt, die Bilder des hellhaarigen Teenager-Jungen muss er sich irgendwo im Internet heruntergeladen haben. «Maxi war so nett zu mir, hat mir bei meinen Problemen zugehört, viel Verständnis gezeigt und mich gelobt. Da habe ich diese ekligen Bilder seines Penis halt in Kauf genommen. Ich habe gedacht, wir seien ein Paar und das gehöre einfach dazu», erzählt Lina weiter. Nur wenige Tage habe es gedauert, bis «Maximilian» Lina aufgefordert habe, ihm ebenfalls Bilder ihres Intimbereichs zu schicken. «Er hat mir genau gesagt, was ich ausziehen, wie ich das Handy halten und wie ich die Beine spreizen soll. Ich habe alles getan, was er gesagt hat, obwohl du, Mama, mich immer vor genau dieser Situation gewarnt hast.» Lina weint. Sie schämt sich: Weil sie mitgemacht und sich so entblösst hat. Weil sie auf den Typen reingefallen ist. Weil sie eigentlich gut Bescheid gewusst und Alarmzeichen erkannt hat – und dennoch den Fake-Liebesbekundungen nicht widerstehen konnte. Weil sie denkt, dass ich nun enttäuscht sei.

Ich versuche sofort, ihre Gefühle anzuerkennen und mit einer anderen Perspektive zu entkräften. Ich sage ihr, dass sie keine Schuld trifft, auch wenn sie selbst aktiv mitgemacht hat. Dass der Täter einzig und allein «Maximilian» sei. Dass solche pädokriminellen Internettäter die Masche von Vertrauen gewinnen, Druck aufsetzen und Belohnungen schenken perfektioniert hätten und «Maximilian» das bei ganz vielen anderen Kindern ebenfalls erfolgreich angewendet habe – und das offenbar in einem solchen Ausmass, dass er zum Zeitpunkt, als wir in der Schweiz von der Polizei kontaktiert wurden, schon mehrere Monate in einem Gefängnis im Ausland einsass.

Wenn Lina nicht tat, was er wollte, gab's eine Strafe

Was Lina weiter erzählt, ist nichts für schwache Nerven. Schon gar nicht, wenn es das eigene Kind betrifft.

«Mit der Zeit hat Maxi von mir verlangt, dass ich mich selbst befriedige. Ich mache das sonst nicht und wusste nicht, was ich tun sollte. Er hat mich angeschrien und gesagt, ich würde es falsch machen! Ich solle mich nicht so anstellen, mir mehr Mühe geben.» Wenn er besonders wütend geworden sei, habe er das Gespräch abrupt beendet und Lina mehrere Tage ignoriert. «Ich hatte Liebeskummer. Als er sich endlich wieder gemeldet hat, wollte ich alles tun, um ihm zu gefallen.»

Auch wenn ich anonym erzähle, möchte ich hier nicht weiter ins Detail gehen. Nur so viel: Am Ende hat Lina Dinge getan, die ihr selbst Schmerzen bereitet haben. Eine Online-Vergewaltigung, so würde ich das spontan und komplett unjuristisch nennen. Die «Belohnung» von «Maximilian»: Liebesbekundigungen, freundliche Worte, ein offenes Ohr.

Mitschuldig fühle auch ich mich: Warum habe ich nichts bemerkt? Habe ich Lina zu schlecht über Cybergrooming aufgeklärt?

Die Schuld liegt allein beim Täter

Nachdem alles raus ist, wird Lina krank, ihr Kopf glüht. Mehrere Tage kann sie nicht zur Schule. Zum Termin mit der Kinderpsychologin ist sie wieder einigermassen fit.

Am Anfang der Therapiestunde bin ich mit dabei. Die Psychologin wiederholt, dass Lina keine Schuld treffe und erklärt, weshalb sie sich nicht zu schämen brauche. Dass Scham das Tabu aufrecht erhalte und den Tätern helfe. Es ihnen erleichtere, im Verborgenen zu agieren. Was die Schilderungen zum genauen Hergang des Online-Missbrauchs anbelangt, ist die Therapeutin zurückhaltend. Sie befürchtet, dass die Qualität von Linas Aussage bei der Polizei durch häufiges Nacherzählen leidet. Ein Gedanke, den ich nachvollziehen kann. Doch wenn ich die Wahl habe, meiner Tochter durch offene, mitfühlende Gespräche zu ein wenig Erleichterung zu verhelfen oder aber sie mit dem Erlebten bis zum Einvernahmetermin alleine zu lassen, damit sie dort «frisch» und erstmalig berichten kann, muss ich nicht lange nachdenken.

Immer wieder sprechen wir auf Linas Wunsch hin in den kommenden Tagen daher über die Tat. Im Vordergrund: Die Scham und das Gefühl von Mitschuld.

Mitschuldig fühle auch ich mich: Warum habe ich nichts bemerkt? Habe ich Lina zu schlecht über Cybergrooming aufgeklärt? Wie konnte es passieren, dass sie mit diesem furchtbaren Erlebnis so lange auf sich allein gestellt war? Ich bin froh, dass ich ebenfalls mit einer Fachperson darüber sprechen kann.

Die Einvernahme: emotionslos und nüchtern

Am Tag der Einvernahme ist Lina nervös, aber gewillt, mit ihrer Aussage die Ermittlungen zu unterstützen. Das Gebäude der Polizei ist riesig, wie am Flughafen müssen wir uns ausweisen und eine Sicherheitskontrolle passieren, bevor wir mit dem Lift ein paar Stockwerke hochfahren. Oben warten wir am falschen Ort und es dauert eine Weile, bis die Polizistin und die Polizeipsychologin uns finden. Anders, als wir uns das vorgestellt haben, sitzt die Psychologin während der Befragung nicht an Linas Seite, sondern in einem Nebenraum, wo sie per Videoübertragung das Gespräch mitverfolgen kann. Mein Platz ist in Linas Rücken in der Ecke des Raumes. Noch einmal werde ich angewiesen, mich absolut ruhig zu verhalten.

Die Befragung dauert mehr als eine Stunde und verläuft sehr sachlich. Ich verstehe, dass das so sein muss, um jeden Eindruck von Parteinahme zu verhindern. Aber versteht das auch Lina? Oder wirkt es auf sie bloss kalt und unempathisch? Anteilnehmende Bemerkungen oder Nachfragen, ob Lina eine Pause, ein Taschentuch oder einen Schluck Wasser brauche, werden jedenfalls nicht geäussert. Als mir doch mal was rausrutscht, werde ich sofort ermahnt, ruhig zu bleiben. Also beisse ich mir fortan auf die Zunge, auch wenn ich an mehreren Stellen gerne noch Dinge präzisiert oder erklärt hätte, die Lina in der Nervosität nicht gut wiedergeben konnte.

Als Mama bin ich froh, höre ich von den Vorfällen nicht zum ersten Mal in diesem kühlen Vernehmungszimmer. Ich weiss nicht, wie ich reagiert hätte. Geschrien? Geweint? Mich auf den sauberen Teppich erbrochen? Auch für Lina bin ich froh, konnte sie bereits in den zurückliegenden Tagen in einer vertrauten, sicheren und anteilnehmenden Umgebung schildern, was passiert ist.

*

Ein Fazit habe ich nicht. Aber ein paar Wünsche:

An die Eltern und andere Bezugspersonen

Sprecht mit euren Kindern über die Anzeichen von Cybergrooming, stellt klar, wie verwerflich und strafbar dieses Verhalten ist. Es kann dennoch sein, dass eure Töchter oder Söhne den Verführungsmaschen der Täter verfallen, besonders dann, wenn es ihnen schon aus anderen Gründen nicht gut geht. Seid nicht böse, weder mit ihnen noch mit euch, beschuldigt sie nicht und schützt sie vor anderen, die ihnen eine Mitschuld anlasten wollen. Sucht Hilfe für euer Kind und vielleicht auch für euch selbst, zum Beispiel bei einer Opferhilfestelle.

An die Polizei

In unserem Fall liefen der Kontakt und die Einvernahme ganz okay. Eine Vertrauensperson an der Einvernahme dabeizuhaben, finde ich für die meisten Teenager nicht fakultativ, sondern zwingend, selbst wenn diese nichts sagen darf. Mehr Informationen im Voraus zur nüchternen Art des Gesprächs und zur nicht-wirklichen Anwesenheit der Psychologin wären wichtig gewesen. Ebenso hätte ich es begrüsst, wenn die Polizeipsychologin oder die Polizistin nach der Einvernahme noch irgendwie «offiziell» deutlich gemacht hätten, dass das Erlebte sehr schlimm ist, dass meine Tochter keine Schuld trifft und dass sie mit ihrer Aussage das Vorgehen gegen den Täter unterstützt. Wünschenswert sind transparente und zeitnahe Informationen durch die Polizei oder die Strafverfolgungsbehörden zum weiteren Verlauf der Abklärungen.

An die Jugendlichen

Ihr habt vielleicht zu Hause, in der Schule oder in den Medien schon von Cybergrooming gehört. Vielleicht habt ihr sogar realisiert, dass euch genau das schon zugestossen ist oder aktuell passiert. Euch zu schämen oder schuldig zu fühlen dafür, dass ihr Opfer geworden und mitgemacht habt, nützt höchstens (potentiellen) Tätern. Ihr könnt nichts dafür und ihr seid nicht allein! Sucht euch unbedingt Vertrauenspersonen, die euch bei der Verarbeitung und/oder bei der Anzeige unterstützen können.

*

Hier finden Sie Hilfe:

Ella Müller heisst in Wirklichkeit anders. Die Mutter von zwei Jugendlichen liebt Zeitungen, Kaffee und den Sommer.