«Es ist so schön, ein queeres Universum zu haben»

Gerade die Anonymität des Internets macht es Täter*innen leicht, ihre Anfeindungen und Demütigungen zu verbreiten. Zugleich erfüllt der digitale Raum für queere Communities wichtige Funktionen. Umso wichtiger ist es, sogenannte Safer Spaces anzubieten.

Queere Menschen sind auch in der Schweiz immer wieder Hass, Gewalt und Diskriminierungen ausgesetzt. Und gerade die Anonymität des Internets macht es Täter*innen leicht, ihre Anfeindungen und Demütigungen zu verbreiten. Zugleich erfüllt der digitale Raum für queere Communities wichtige Funktionen: um sich zu vernetzen, sich untereinander auszutauschen oder um Unterstützung zu finden. Umso wichtiger ist es, sogenannte Safer Spaces anzubieten.

Eine offizielle Statistik darüber, wie viele lesbische, schwule, bisexuelle, trans, nichtbinäre oder intergeschlechtliche Menschen von Hassverbrechen betroffen sind, gibt es in der Schweiz nach wie vor nicht, auch wenn diesbezügliche Bestrebungen in Gang sind. Der Kanton Freiburg und die Stadt Zürich erfassen Gewalt gegen queere Menschen seit 2021, andere Kantone wollen dieses Jahr (2023) nachziehen.

Wenn man sich in die Öffentlichkeit begibt, geschieht es aber auch schnell, dass man mit negativen Botschaften konfrontiert wird.

Sara, Milchjugend

Zunahme von Übergriffen in der Schweiz

Seit 2016 erfasst die Organisation LGBTIQ-Helpline Meldungen, die von Betroffenen oder Zeug*innen eingehen. Zuletzt stellte sie eine deutliche Zunahme fest, insbesondere rund um die «Ehe für alle»-Abstimmung häuften sich Übergriffe. Neben Beleidigungen und Beschimpfungen nahmen auch physische Gewalttätigkeiten wieder zu.

Betroffen waren insbesondere junge Menschen unter 22 Jahren. Mehr als jede*r Zweite darunter leidet an psychischen Folgen, was etwa dazu führt, dass Opfer in der Öffentlichkeit nicht mehr als sichtbar queer auftreten.

Insgesamt wurden jede Woche fast zwei Hate Crimes gezählt. Die LGBT-Dachverbände gehen jedoch aufgrund der ersten polizeilichen Daten und angesichts der hohen Dunkelziffer eher von mehreren Fällen pro Tag aus.
 

Jugendliche gerade online besonders vulnerabel

Bei Übergriffen im digitalen Raum ist die Datenlage noch dünner. Einer Befragung bei 13- bis 18-Jährigen in den USA zufolge wurde fast die Hälfte der schwulen, lesbischen und queeren Jugendlichen online schon einmal im Netz angefeindet. Heterosexuelle Jugendliche waren mit 15 Prozent deutlich weniger betroffen (Ybarra et al., 2015). Für die Schweiz gibt es keine solch spezifischen Untersuchungen.

Das Internet macht es den Täter*innen nicht nur deshalb leichter, ihre Hassbotschaften zu verbreiten, weil sie anonym bleiben können. Sie stehen den Betroffenen auch nicht real und unmittelbar gegenüber, was die Hemmschwelle für eine Diffamierung senkt. Und selbst wenn im Netz keine Rechtsfreiheit herrscht, so sind Kontrollinstanzen doch oft nicht vorhanden oder im konkreten Fall wenig praktikabel. Ein Post kann sich rasant verbreiten und so in kurzer Zeit eine grosse Reichweite erlangen. Als Plattformen dienen Social-Media-Kanäle TikTok oder Instagram, aber auch Chats, Foren und Blogs, News-Kommentarspalten, Online-Spiele, einschlägige Webseiten oder Dating-Apps.

Lea Stahel und Nina Jakoby vom Soziologischen Institut der Universität Zürich kamen 2021 in einem von Jugend und Medien beauftragten → Forschungsbericht zum Schluss, dass Kinder und Jugendliche «besonders vulnerabel» sind, wenn es um (Hetero-)Sexismus im Internet geht. Dies aus zwei Gründen: Einerseits bewegen sie sich als Digital Natives schon früh und immer stärker im digitalen Raum. Andererseits ist ihre Medienkompetenz nicht immer so ausgeprägt, dass sie Risiken richtig abschätzen oder wissen, wie sie in bestimmten Situationen (re-)agieren sollen, um sich bestmöglich zu schützen.

Digitale Vernetzung und Empowerment

Gleichzeitig bietet das Internet die Möglichkeit, Gleichgesinnte zu finden, mit denen man sich austauschen kann, Fragen zu stellen zu allem, was einen bewegt, oder Unterstützung einzuholen, wenn man sich bei etwas unsicher fühlt. Gerade für Heranwachsende auf dem Weg ihrer Selbstfindung, für Jugendliche, die in einem intoleranten, diskriminierenden Umfeld aufwachsen und für alle, die angefeindet oder belästigt wurden, können Online-Communities wichtige Orte der Identitätsstiftung, der Solidarität und des Empowerments sein.

Für die 23-jährige Sara Boy ist dies alles andere als selbstverständlich: «Ich bin in Singapur aufgewachsen, wo Homosexualität illegal ist. Mit 14 habe ich gemerkt, dass ich bisexuell bin. Dass ich heute die Möglichkeit habe, solche Räume zu gestalten, ist ein Privileg.» Sara engagiert sich in der → «Milchjugend», der grössten Schweizer Jugendorganisation für alle Jugendlichen, die sich nicht mit heteronormativen Geschlechter-, Sexualitäts- und Beziehungskonzepten identifizieren wollen. Off- und online schafft die Organisation Räume, um «die emanzipatorische Selbstfindung zu unterstützen, gesellschaftliches Engagement zu ermöglichen und die Selbstbehauptung zu stärken», wie es auf der Webseite heisst. «Welten, in denen wir uns frei fühlen und in denen wir uns ausprobieren können.»

Schutzräume für queere Communities

Solche Räume sind sogenannte Safe(r) Spaces (siehe Erklärung), in denen die Menschen, die sich dort treffen, keine Angst vor Diskriminierung, Hass und Gewalt haben müssen.

Oft werden die Probleme des Queer-Seins in den Vordergrund gestellt. Und ja, es gibt Diskriminierung. Vor allem aber ist das Queer-Sein unglaublich schön.

Sara, Milchjugend

Safe(r) Spaces

Das Wort ‚Safe Space‘ (übersetzt: sicherer Raum oder Schutzraum) steht für Orte, an denen sich Menschen ohne Angst vor Diffamierung, Ausgrenzung und Bedrohung treffen können. Das ist insbesondere für Angehörige von Minderheiten wichtig, die im öffentlichen Raum vielleicht bereits Hass und Diskriminierung ausgesetzt waren. Ein Safe Space soll es möglich machen, offen über Erfahrungen zu sprechen, Gemeinschaften zu bilden und sich gegenseitig zu empowern. Da allerdings nie für einen hundertprozentigen Schutz garantiert werden kann, spricht man heute eher von Safer Spaces, also von Räumen, die zumindest eine höhere Sicherheit bieten als öffentliche.


Die Milchjugend initiiert verschiedene solche Safer Spaces – von der Zeitschrift Milchbüechli über regelmässige Treffen und Partys bis hin zu einem Festival. 300 Jugendliche sind aktiv mit dabei, der Newsletter zählt inzwischen rund 4000 Abonnent*innen.

Online dient insbesondere die Webseite als erste Anlaufstelle. Die App Milchstrasse informiert über aktuelle Anlässe und bietet die Möglichkeit, sich in der Community zu vernetzen und mit anderen zu chatten.

Daneben existiert ein Pool von queeren Jugendlichen und jungen Erwachsenen, die Quings, die persönlich bei Fragen rund ums Queer-Sein zur Verfügung stehen oder all jene, die sich alleine noch etwas unsicher fühlen, zu einem Event begleiten.

Queere Influencer*innen

Auch Sara ist sich bewusst, dass der digitale Raum Chancen wie Risiken bietet: «Mit digitalen Medien können wir so viele Menschen erreichen», sagt die gelernte Kauffrau und Moderatorin des Podcasts Radiomilch. «Wenn man sich in die Öffentlichkeit begibt, geschieht es aber auch schnell, dass man mit negativen Botschaften konfrontiert wird. Zum Beispiel, dass queere Menschen es nicht verdient hätten, Rechte zu haben.» Sie rät darum auch, sich gut zu überlegen, wo man etwas veröffentlichen will.

Eine wichtige Rolle im Internet spielen zudem queere Influencer*innen. Sie geben der Community eine Stimme und ein Gesicht, stellen sich aktiv gegen Anfeindungen und empowern damit viele andere. Dazu gehören zum Beispiel Tom Daley, der britische Turmspringer, der an den Olympischen Spielen 2021 Gold holte und sich bereits vor einigen Jahren als schwul geoutet hatte. Oder Ericka Hart, die sich als queer und non-binär definiert, als Model, Autorin und Sexualpädagogin tätig ist und auch die Narben ihrer Brustkrebsoperation offen zeigt. Oder der 19-jährige Oskar Artem, der schon mit 12 Jahren Make-up-Tutorials auf YouTube veröffentlichte.  

Sie und viele andere machen deutlich, was auch Sara betont: «Es ist so schön, ein queeres Universum zu haben. Oft werden die Probleme des Queer-Seins in den Vordergrund gestellt. Und ja, es gibt Diskriminierung. Vor allem aber ist das Queer-Sein unglaublich schön.»

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Weitere Informationen und Tipps im Umgang mit Online-Hass und Diskriminierung finden Sie in unserer → Rubrik. Ratschläge für mehr Sicherheit im Online-Raum für queere Menschen bietet ein Überblick von → vpnMentor. Die → LGBTIQ-Helpline ist zudem Anlaufstelle bei erlebten oder beobachteten Übergriffen gegen queere Menschen.

Bettina Bichsel ist Journalistin und Texterin. Sie schreibt und bloggt unter anderem für Jugend und Medien.