Ein Junge und ein Mädchen machen zusammen ein Foto mit dem Handy.

Mut zum Unperfekten

Selfies sind aus den sozialen Medien nicht mehr wegzudenken. Aber wie will ich mich im Netz zeigen? Oft neigen gerade Heranwachsende zu stereotypen Aufnahmen.

«Deine Freunde in echt» – so wirbt die relativ neue App BeReal für User*innen. Nicht perfekte Inszenierungen wie bei Instagram sollen im Zentrum stehen, sondern Momentaufnahmen aus dem Leben. Der Boom von BeReal zeigt: Selfies sind aus den sozialen Medien nicht mehr wegzudenken. Aber wie will ich mich im Netz zeigen? Oft neigen gerade Heranwachsende zu stereotypen Aufnahmen.

BeReal kommt aus Frankreich und ist seit 2020 auf dem Markt. Momentan verzeichnet die Social-Media-Plattform steigende Download-Zahlen, allen voran in den USA, wo die als Anti-Instagram beworbene App einen Nerv zu treffen scheint.

Vielleicht steckt tatsächlich ein Wunsch nach mehr Authentizität und echtem Leben dahinter, weg von Filtern, Photoshop und Glamour. Denn die Scheinwelt, die von Influencer*innen durch ihre perfekt in Szene gesetzten Bilder und Videos im Internet dargestellt wird, vermittelt nicht nur falsche Vorstellungen, sondern kann auch unter Druck setzen.

Likes zementieren gängige Schönheitsideale

Dass Medien die gesellschaftliche Definition von Schönheitsidealen beeinflussen, ist nichts Neues. Die Rolle, die früher dem Fernsehen, Filmen und Zeitschriften zukam, übernehmen einfach heute vermehrt digitale und insbesondere soziale Medien. Gerade Heranwachsende fühlen sich davon angezogen: In ihrem Selbstfindungs- und Entwicklungsprozess suchen sie seit jeher nach Vorbildern, an denen sie sich orientieren können. Influencer*innen übernehmen dabei einen wichtigen Part: Sie präsentieren sich als Teil der Lebensrealität von Jugendlichen, schaffen eine gefühlte Nähe, indem sie wie «Freunde» Alltagsfotos posten und aus ihrem Leben erzählen.

Das hat vor allem eine starke Wirkung auf Mädchen, wie die Zürcher Hochschule für Angewandte Wissenschaften (ZHAW) in der JAMES-Studie 2020 festhält: «Das Erstellen von Bildmaterial ist für viele Mädchen ein wichtiger Aspekt in der Entwicklung der Geschlechtsidentität. Neue Frisuren, neue Outfits werden abfotografiert und durch die Peergroup in Form von Kommentaren und Likes bewertet.»

In einer 2019 veröffentlichten Kooperationsstudie des Internationalen Zentralinstituts für das Jugend- und Bildungsfernsehen (IZI) und der deutschen MaLisa Stiftung zur Selbstinszenierung von Mädchen auf Instagram wurde aber auch deutlich, wie diese Bewertungen durch andere das Posting-Verhalten beeinflusst. Maya Götz, IZI-Leiterin und Co-Autorin der Studie, hält dazu fest: «Sie bekommen Likes und Rückmeldungen, die sich vor allem auf ihr Aussehen beziehen. Erfolgreich sind vor allem die Inszenierungen, die den Vorgaben der professionellen Schönheits- und Modeindustrie entsprechen. Dies führt vorbewusst dazu, dass alle anderen Bilder zunehmend seltener hochgeladen werden.» Lustige Schnappschüsse, die die Mädchen früher gepostet hatten und einfach aus dem Moment heraus entstanden waren, sind ihnen plötzlich peinlich. Selfies, auf denen sie Grimassen geschnitten oder herumgealbert hatten, löschten sie darum irgendwann aus dem Feed.  

Ich achte immer darauf bei Bildern, wo ich stehe, dass die Beine dünn und hübsch aussehen.

Lara, 15

Photoshop und Filter für das perfekte Bild

Den für die Studie befragten Mädchen zwischen 14 und 16 Jahren ist es wichtig, nicht zu viel Haut zu zeigen oder erotische Posen einzunehmen. Grossen Wert legen sie aber auf Haare, Make-up, Gesichtsausdruck, Körperhaltung und Figur. Damit das Selfie ihren Vorstellungen entspricht, greifen sie durchaus zu Filtern oder Fotobearbeitungsprogrammen. «Also ich achte immer darauf bei Bildern, wo ich stehe, dass die Beine dünn und hübsch aussehen. Darauf lege ich halt besonders Wert. Oder wenn ich sitze, dass der Bauch flach aussieht», sagt etwa die 15-jährige Lara. Klappt das nicht automatisch, hilft sie auch manchmal nach mit einem Programm, das die Beine optisch verlängert. Mit anderen Apps lassen sich Gesichtszüge, Haut oder Haare korrigieren.

Für das perfekte Bild wird entsprechend viel Zeit investiert, mit der richtigen Vorbereitung, der Auswahl der Location oder Überlegungen zur richtigen Pose, indem zigmal der Auslöser gedrückt wird, bis das Ergebnis zufriedenstellend ist, und eben mit der Nachbereitung.

Schön ist, was anderen gefällt?

Keine Gedanken scheinen sich die Mädchen darüber zu machen, dass sie mit ihren Selfies auch gängige Klischees bedienen. Maya Götz schreibt dazu: «Kritische Fragen, ob es beispielswiese überhaupt sinnvoll und ihrer Identität zuträglich ist, einem so stereotypen Schönheitsideal genügen zu wollen, werden nicht gestellt. Die Mädchen sind perfekt angepasst und formulieren ihre Selbstinszenierung ausgesprochen kompetent im Sinne eines neoliberalen Frauenbildes, bei dem die Selbstoptimierung und das sich und anderen Gefallen im Mittelpunkt stehen.»

Genau dieser Entwicklung entgegenwirken will BeReal. Denn hier sollen weder inszenierte Selfies die Runde machen, noch Influencer*innen den Ton bestimmen. Möglich sein soll das vor allem dadurch, dass User*innen jeden Tag zu unterschiedlichen Zeiten eine Benachrichtigung erhalten. Dann bleiben zwei Minuten Zeit, um ein Foto aufzunehmen und zu posten. Genutzt werden dabei beide Kameraeinstellungen gleichzeitig, das heisst, zu sehen ist das, was ich mit der Frontkamera fotografiere (z. B. mein Bildschirm, weil ich gerade diesen Text schreibe), und in der Ecke ein mit der Rückkamera aufgenommenes kleines Selfie. Zwar kann ich (innerhalb dieser zwei Minuten) mehrmals ein Foto aufnehmen oder das Ganze auch auf später verschieben. Beim Upload wird das alles aber angezeigt. Ausserdem funktionieren weder das Hochladen aus der Galerie noch die Bearbeitung. 24 Stunden später wird das Foto gelöscht – und andere Bilder anschauen kann nur, wer selber bereits eins gepostet hat.

Ob damit die Welt der sozialen Netzwerke revolutioniert wird, bleibe dahingestellt. Ein wichtiger Punkt, der bei der Nutzung im Blick behalten werden sollte: Gezeigt wird üblicherweise immer, wo sich jemand gerade aufhält. Weil Fotos auch öffentlich geteilt werden können, ist dies aus Datenschutzgründen problematisch. Die Standort-Funktion sollte darum deaktiviert werden. Zudem kann die Zwei-Minuten-Regel dazu führen, dass man sich genötigt fühlt, ein Foto zu posten, das man danach vielleicht bereut. Bis das Foto nach 24 Stunden gelöscht wird, kann es längst woanders abgespeichert und weiterverbreitet werden.

Am schönsten sind wir, wenn wir niemandem gefallen wollen.

Kate T. Parker, Fotografin

Regen Sie bei Ihrem Kind einen kritischen Blick an

Ganz unabhängig davon, welche Plattformen Ihr Kind nutzt: Das Spiel mit verschiedenen Identitäten ist Teil der Pubertät. Heranwachsende probieren sich aus und brauchen dabei den Resonanzrahmen von Peers. Das gilt für die analoge wie für die digitale Welt. Als Erwachsene können Sie diesen Prozess unterstützen, indem Sie sich mit Ihrem Kind darüber austauschen – nicht mit der Moralkeule, sondern mit einem offenen Ohr:

  • Was bewundert Ihr Kind an den Idolen, denen es folgt?
  • Was empfindet Ihr Kind als schön und warum?
  • Was ist Ihrem Kind wichtig, wenn es Fotos von sich postet? Wie präsentiert es sich und was möchte es damit erreichen?


Hinterfragen Sie aber auch Geschlechterstereotype und fördern Sie eine kritische Haltung, wenn es um mediale Inszenierungen und klischeehafte Schönheitsideale geht:

  • Was denkt Ihr Kind: Ist wirklich alles so perfekt, wie die Influencer*innen das auf ihren Profilen vorgeben?
  • Weiss Ihr Kind, wie viel Zeit Influencer*innen in die Bearbeitung ihrer Fotos stecken, und dass sie damit ihr Geld verdienen?
  • Was bewirkt es, wenn ich meine Fotos bearbeite? Was vermittle ich dadurch?
  • Was macht einen Menschen aus? Nur sein Äusseres und das perfekt erscheinende Leben?
  • Was, wenn ich auch zu meinen Schwächen und Unzulänglichkeiten stehe?


Vielleicht suchen Sie gemeinsam nach Menschen im Netz, die sich bewusst von Stereotypen abheben, sich authentisch und echt zeigen. Nicht, weil es eine App von ihnen verlangt, sondern weil sie selbstbewusst zu sich stehen und damit genau das zeigen, was die Fotografin Kate T. Parker in ihrem gleichnamigen Bildband mit Porträts von Mädchen vermittelt: «Am schönsten sind wir, wenn wir niemandem gefallen wollen.»

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Gar einen Schritt auf gesetzlicher Ebene haben Frankreich (2017) und Norwegen (2022) getan: Hier gibt es Bestimmungen, wonach retuschierte und manipulierte Fotos gekennzeichnet werden müssen. Die Vorschriften gelten für klassische Medien, Werbungen, aber auch explizit für soziale Netzwerke und Influencer*innen.

Weitere Informationen und Tipps zum Thema finden Sie in unserer Rubrik → Selbstdarstellung und Schönheitsideale.

Bettina Bichsel ist Journalistin und Texterin. Sie schreibt und bloggt unter anderem für Jugend und Medien.