Digitale Selbstverteidigung gegen sexuelle Übergriffe im Netz

| Bettina Bichsel

Der deutsche Journalist Daniel Moßbrucker deckt in einem Buch das perfide Vorgehen von Pädokriminellen im Internet auf. Er zeigt, wie sie sich – zum Teil ganz offen – untereinander vernetzen und wie sie auch harmlose Fotos von Minderjährigen für ihre Zwecke missbrauchen. Medienkompetenz oder, wie er es nennt: digitale Selbstverteidigung, ist ein Schlüssel, um Kinder zu schützen. Aber was genau bedeutet das?

Das Buch → «Direkt vor unseren Augen: Wie Pädokriminelle im Internet vorgehen und wie wir Kinder davor schützen» ist alles andere als leichte Lektüre. Moßbrucker taucht tief in die Abgründe der pädokriminellen Szene ab. Dabei geht es ihm nicht um Panikmache und Alarmismus, sondern darum, den Lesenden die Realität vor Augen zu führen, indem er systematisch und anschaulich die Strategien der Täter*innen offenlegt.

Für Pädokriminelle ist die Digitalisierung, so bitter das klingen mag, ein Geschenk.

Daniel Moßbrucker, Journalist

Im Zuge der Recherchen haben → Moßbrucker und sein Team nicht nur das zu diesem Zeitpunkt weltweit grösste Forum von Pädokriminellen im Darknet so massiv gestört, dass es sich auflöste. Sie sorgten auch dafür, dass riesige Datenmengen von Foto- und Videomaterial, das in den Kreisen kursierte, gelöscht wurden. So weit, so erfolgreich.

Die Recherchen machen aber auch deutlich, dass dank der digitalen Möglichkeiten vieles für pädokriminelle Täter*innen leichter geworden ist:

  • Ganz grundsätzlich gilt, wie Moßbrucker festhält: «Für Pädokriminelle ist die Digitalisierung, so bitter das klingen mag, ein Geschenk.» Konkret bedeutet dies, dass mehr Täter*innen aus der ganzen Welt miteinander in Kontakt treten können, um sich auszutauschen und Fotos/Videos zu teilen. Und das in der Regel anonym, das heisst mit minimiertem Risiko, entdeckt zu werden.
  • Sich neu zu organisieren und vernetzen ist einfacher denn je. Moßbrucker schreibt dazu: «Ein neues Forum erreicht heutzutage in einem Monat, wofür Administratoren Mitte der 2010er Jahre lange kämpfen mussten.»
  • Die Entwicklung gerade von Social Media und die damit verbundene ständige Verfügbarkeit von Bildmaterial machen sich pädokriminelle Täter*innen nicht nur für ihre Übergriffe zunutze. Auch ein Verhaltenswandel ist die Folge: Fotos/Videos werden nicht mehr auf den privaten Geräten abgespeichert (denn sie sind ja öffentlich zugänglich) und können bei einer Strafverfolgung entsprechend nicht mehr als Beweismaterial angelastet werden.


Weil vorhin vom Darknet die Rede war, muss eines präzisiert werden: Pädokriminelle agieren auch, aber längst nicht nur im Darknet, sondern genauso im sogenannten Clearweb, also dem ganz normalen Internet, das auch Sie und ich und unsere Kinder nutzen. Geht es um die konkrete Art und Weise, wie digitale Entwicklungen von Pädokriminellen eingesetzt werden, sind drei Phänomene zentral.
 

Ein einziger solcher Hashtag auf dem ganzen Profil kann reichen, um in das Visier der pädokriminellen Szene zu geraten.

Daniel Moßbrucker

1. Das Smartphone als Instrument zur Ausübung von Macht

Kennen Opfer und Täter*in sich persönlich (und das geschieht weit öfter, als wir es uns vorstellen möchten, denn 80 bis 90 Prozent der Fälle von sexualisierter Gewalt gegen Minderjährige geschehen Untersuchungen zufolge im nahen Umfeld), wird das Handy für Pädokriminelle ein zentrales Kommunikations-, Macht- und Druckmittel. Über Messengerdienste werden zunächst Nachrichten ausgetauscht, um die Beziehung zu festigen. Wenn der Missbrauch erfolgt ist, gibt es Drohungen («Wehe, du erzählst jemandem etwas!») und Schuldzuweisungen («Du hast schliesslich mitgemacht.») Bildmaterial kann zudem als Erpressung genutzt werden («Wenn du jemandem etwas sagst, zeige ich die Fotos XY.»). Für die Betroffenen wird das Smartphone zum erweiterten Tatraum: Zu jeder Zeit kann ein neuer Übergriff geschehen.

2. Cybergrooming

Wenn Pädokriminelle (in der Regel unter falscher Identität) z.B. auf Social Media oder bei Online-Games Kontakte zu Minderjährigen anbahnen, um sexuell übergriffig zu werden, sprechen wir von Cybergrooming. Instagram, WhatsApp, Snapchat oder TikTok sind laut Moßbrucker die häufigsten Tatorte. Die Täter*innen erschleichen sich das Vertrauen, richten die Kommunikation irgendwann in Richtung Sexualität und verlangen beispielsweise als Liebesbeweis Nacktfotos. Zum erlittenen Vertrauensverlust und den Schamgefühlen kommt für die Betroffenen hinzu, dass sie nicht wissen, was der*die Täter*in mit den Bildern macht. Leider gelangen sie nur zu oft in pädokriminelle Foren.

Wie Moßbrucker schreibt, agieren Pädokriminelle auf Social-Media-Plattformen wie Instagram auch mit Hashtags, die in der Szene bekannt, für Aussenstehende jedoch unverständlich sind und auf den ersten Blick unverfänglich klingen. Dazu heisst es im Buch weiter: «Ein einziger solcher Hashtag auf dem ganzen Profil kann reichen, um in das Visier der pädokriminellen Szene zu geraten. Bilder können abfließen, Cybergrooming kann starten.»

3. Pädokriminelle Foren im Darknet

Wie bereits erwähnt, nutzen Pädokriminelle den Umstand, dass man als User im Darknet keine Spuren hinterlässt. Wer hier unterwegs ist, bleibt komplett anonym. Moßbrucker und sein Team stiessen auf riesige Foren, das grösste davon umfasste bis zu vier Millionen Accounts (wobei diese Zahl nicht den tatsächlichen Nutzenden entspricht, da Pädokriminelle aus Vorsicht immer wieder neue Accounts erstellen). Dabei stellten sie auch fest, dass in der Szene selbst eigentlich normale Fotos, auf denen Kinder bekleidet und in Alltagssituationen zu sehen sind, äusserst beliebt sind. Pädokriminelle nutzen auch solche Fotos für ihre Missbrauchsfantasien und versehen sie mit widerlichen Kommentaren.

Woher die Fotos stammen? Oft von Social-Media-Plattformen, aber auch von vermeintlich «sicheren» Diensten wie WhatsApp.

Überlegen Sie selbst auch, welche Fotos/Videos Sie von Ihren Kindern auf Instagram posten oder über WhatsApp versenden.

Bettina Bichsel, Jugend und Medien

Tipps für Eltern

Was folgt nun aus all diesen Erkenntnissen? Können sich unsere Kinder überhaupt im Internet bewegen, ohne dass sie an Pädokriminelle geraten? Sollen wir keine Fotos mehr machen aus Angst, sie könnten in solchen Foren auftauchen?

Moßbrucker bringt den Begriff der «digitalen Selbstverteidigung» auf. Was damit gemeint ist, deckt sich mit den Empfehlungen, die auch wir von Jugend und Medien Ihnen als Eltern nahelegen. Das heisst zusammengefasst:

  • Das erste Handy muss nicht unbedingt schon ein Smartphone sein. Oft reicht auch ein einfaches Telefon, das sich nicht mit dem Internet verbinden lässt und keine Kamera hat. Tipps rund um die grosse Frage, wann ein Kind reif ist für ein erstes Smartphone, finden Sie in unserer → Checkliste, die wir gemeinsam mit Pro Juventute erarbeitet haben.
  • Wenn Kinder ein Gerät von Ihnen oder älteren Geschwistern nutzen, richten Sie dafür einen eigenen Account mit Kindermodus ein.
  • Begleiten Sie Ihre Kinder, bei den ersten Schritten im Netz sowieso, aber auch darüber hinaus. Interessieren Sie sich für die Dinge, die Ihr Kind faszinieren, z.B. Influencer*innen auf Instagram und TikTok oder Online-Games. Schauen Sie sich die Spiele an und gamen Sie gemeinsam. Es kann z.B. sein, dass die Chatfunktion bei einem Online-Game erst nach ein paar Levels freigeschaltet wird.
  • Kinder sollen sich der Risiken bewusst sein. Sie müssen wissen, dass sich auch Menschen mit bösen Absichten im Internet bewegen und dass ein Profil nicht immer die Person zeigt, die tatsächlich dahinter steckt. Wenn Fremde mit ihnen Kontakt aufnehmen wollen, sollen sie vorsichtig sein. Nie sollen Fotos/Videos geschickt werden. Auch auf Videochats und ein Offline-Treffen sollten sich Kinder und Jugendliche nicht einfach einlassen.
  • Zurückhaltung ist auch bei persönlichen Angaben wichtig. Name, Alter, Telefonnummer oder Adresse sollen auf keinen Fall genannt werden. Ob auf Social Media, bei Online-Games oder in Chatforen: Ihre Kinder sollten immer einen Nickname verwenden.
  • Täter*innen sind oft übermässig freundlich, zeigen sich interessiert, machen Komplimente oder bezahlen in Online-Games für digitale Geschenke, die Spielfortschritte bringen.
  • Wichtig für Sie als Eltern: Wenn doch etwas passiert, seien Sie nicht böse oder enttäuscht. Reagieren Sie verständnisvoll und vermitteln Sie Ihrem Kind, wie wichtig es ist, dass es mit Ihnen darüber gesprochen hat.
  • Viele Kinder und Jugendliche wissen, dass sie sich – weder im normalen Leben noch online – nicht auf Fremde einlassen sollen. Oder dass sie keine erotischen Selfies verschicken sollen. Wenn Sie dann doch auf Täter*innen hereinfallen, beispielsweise weil sie sich verlieben oder weil ihnen gedroht wird, schämen sie sich umso mehr und trauen sich unter Umständen nicht, darüber zu sprechen. Seien Sie aufmerksam und reagieren Sie, wenn sich z.B. am Verhalten Ihres Kindes etwas verändert oder wenn Sie den Eindruck haben, dass etwas nicht stimmt. Machen Sie Ihrem Kind klar: Die Schuld liegt allein bei den Täter*innen!
  • Überlegen Sie selbst auch, welche Fotos/Videos Sie von Ihren Kindern auf Instagram posten oder über WhatsApp versenden. In öffentlichen Netzwerken sollte z.B. das Gesicht Ihres Kindes nicht erkennbar sein. Und laut Moßbrucker sind Fotos, auf denen die Kinder nicht alleine, sondern mit Erwachsenen zu sehen sind (und zwar so, dass sie nicht einfach mit Photoshop entfernt werden können), für Pädokriminelle uninteressant.
  • Sensibilisieren Sie auch das eigene Umfeld und sagen Sie z.B. Grosseltern, Verwandten und Freunden, welchen Umgang Sie mit Fotos/Videos wünschen.


*

Weitere Empfehlungen und Informationen finden Sie in unserer Rubrik → Sexuelle Übergriffe im Netz

Bettina Bichsel ist Journalistin und Texterin. Sie schreibt und bloggt unter anderem für Jugend und Medien.