In seinem Referat gibt Prof. Pastötter, Präsident der Deutschen Gesellschaft für Sozialwissenschaftliche Sexualforschung, Einblick in den Stand der Forschung im Bereich von Sexting und Pornokonsum (Abstract, PDF). Zum Thema Sexting gibt es in Europa keine Studien. Amerikanischen Studien zeigen, dass heute 50 Prozent aller Teenager Erfahrung damit haben, Nacktbilder oder erotische Nachrichten zu verschicken. 16 Prozent der jungen Männer schicken die Nachrichten sogar an völlig Fremde - es scheint auch ein Werbemittel zu sein. Studien zum Pornokonsum von Heranwachsenden gibt es Hunderte, doch aufgrund der unterschiedlichen Definitionen von Pornografie und Konsum sind diese nicht vergleichbar. Ca. 50 Prozent der Jungen und ca. 10 Prozent der Mädchen schauen sich ab der Pubertät Pornos an - die Mädchen i.d.R. als Folge der Aufforderung durch den Partner. In der Selbstaussage Jugendlicher und Erwachsener wird sexuelle Aufklärung als Motiv genannt, Pornografie anzusehen. Ein regelmässiger Konsum im Sinne von Betrachten mit gleichzeitigem Masturbieren scheint bei Jugendlichen nicht häufig zu sein. Für viele Kinder und Jugendliche ist nicht das Genital das Interessante, sondern die Sehnsucht nach einem Partner, der uns versteht, uns annimmt, und den wir verstehen.
Ob Pornokonsum Wertvorstellungen im Sexualverhalten verändert, ist schwer zu untersuchen, da die Studien auf Selbstaussagen basieren und der Zugang zu den verborgenen Motiven schwierig ist. Sexualität ist ein komplexer hormoneller, emotionaler und kognitiver Prozess. Daraus eine kausale Wirkung herzustellen ist eine Herausforderung für die Forschung. Aus kulturanthropologischer Sicht sieht Prof. Pastötter Pornografie als eine Erzählung, ein sog. narratives Medium. Und er glaubt, dass die Bilder eine Wirkung haben. Man kann etwa feststellen, dass der Lusteffekt durch den Pornokonsum schnell nachlässt, d.h. eine Desensibilisierung stattfindet. So sagen junge Männer, dass ihre Reaktionsfähigkeit auf reale Partner eingeschränkt wird, weil die Fantasie im Kopf und nicht im Körper ist. Beobachtungen zufolge gibt es auch Auswirkungen bei Kindern im sozialen Zusammenhang - etwa eine sexualisierte, obszöne Sprache. Da der Jugendschutz im Netz nicht gewährleistet ist - es gibt über 6 Mio. frei verfügbare Videoclips und Pornofilme - erachtet er die Medienpädagogik als wichtig. Er weist aber darauf hin, dass diese nur das kognitive Verständnis unterstützt. Das Einzige, das gemäss ihm gut funktioniert, ist, die Vorbildfunktion der Erwachsenen zu aktivieren - denn Kinder merken, wenn Eltern Pornos konsumieren. Und er fordert auf jedem Porno ein Hinweis: «Ihre normale sexuelle Reaktionsfähigkeit zu ihrem Partner leidet.»
Die Erfahrungen von Pascale Coquoz als Sexualpädagogin in der Romandie bestätigen die Darstellungen von Prof. Pastötter. Sie beobachtete in den letzten 10 Jahren in den Schulklassen einen Anstieg der sexuellen Erregung und der sexualisierten Sprache und erklärt diese durch die Visualisierungen in unserer hypersexualisierten Gesellschaft. Sie beobachtet damit verbunden auch eine Steigerung des Ekels durch alles, was mit der eigenen Sexualität zu tun hat. Die Jugendlichen machen keinen Unterschied mehr zwischen erwachsener Sexualität und Pornografie. Schlecht informierte Kinder sind eher beeindruckt durch Pornos als solche, die einen Dialog mit den Eltern hatten. Auch die Kultur beeinflusst die Wahrnehmung.
Beide Fachpersonen sind sich einig: Man soll nicht dramatisieren und auch nicht verurteilen. Die positive Seite sei, dass Jugendliche eine grössere Offenheit in ihrem Wording und eine grössere Kompetenz hätten. Die Grundsatzfragen blieben aber dieselben: Wie wird man schwanger, wie verändert sich mein Körper in der Pubertät etc. Pornografie ist nicht das Thema, das die Jugendlichen interessiert. Dennoch werde es in der Sexualpädagogik immer angesprochen - ausgehend von den emotionalen Auswirkungen bei der Betrachtung der Bilder. Einig sind sie sich auch darin, dass die Sexualisierung der Gesellschaft und der frühe Kontakt mit Pornos nicht zu einer Vorverschiebung des ersten Geschlechtsverkehrs führen. Prof. Pastötter ergänzt, dass es im Gegenteil sogar eher zu einer Verschiebung nach hinten kommt - dies zeigen Studien in den USA. Ein Problem das er sieht ist, dass Kinder und Jugendliche bis 13/14 Jahre nicht in der Lage sind, zwischen Fiktion und Realität zu unterscheiden - die Medienwirkungsforschung zeige dies. Wie kann man also verhindern, dass sich Bilder unerwünscht emotional auswirken? Und bringt man einem Kind bei, dass Porno nicht partnerschaftliche Sexualität ist, sondern eine Erzählung? Pastötter's Hypothese ist: Je mehr Sicherheit und funktionierende Beziehungen ein Kind erlebt, desto eher ist es auch in der Lage das Gesehene besser zu verarbeiten. Nicht Worte wie «das ist nicht echt», sondern starke körperliche Erfahrungen der Sicherheit, der emotionalen Stabilität und Geborgenheit können emotionale Reaktionen seiner Meinung nach dämpfen. Dies wiederum können nur die engen Bezugspersonen leisten, Lehrpersonen nicht. Wenn diese versagten, werde es schwierig. Erwachsene sollten sich deshalb ihrer Verantwortung bewusst sein, den Kindern ein Gegenmodell zu bieten, das sie befähigt, die Bilder einordnen und verarbeiten zu können. Frau Coquoz betont in diesem Zusammenhang die Wichtigkeit der Elternarbeit, die bereits im Kindergartenalter beginnt. Elterncafés bieten einen Rahmen, wo Eltern sich austauschen und Fragen beantwortet werden können.
Eine Schulsozialarbeiterin aus dem Publikum konstatiert, dass sie gute Erfahrungen macht mit dem Gespräch über Liebe, Verliebtheit und Freundschaft sowie mit kindgerechten Büchern. Coquoz kann dem zustimmen. Der Sexualkundeunterricht fördert die Entwicklung von Kompetenzen und hilft, die Weichen zu stellen. Auch das Thema Körperlichkeit und Sinnlichkeit greift ARTANES in den Schulen auf. Sie zeigen Videos zum Thema: Wie küsse ich gut, streichle ich, umarme ich? ARTANES hat zudem pädagogisches Material publiziert, um mit Jugendlichen zu arbeiten und für die Peer-Gruppe. Sie plädiert für die Sexualerziehung als eine Querschnittaufgabe im frühen Kindesalter.
Referat zum Download:
Prof. (US) Dr. Jakob Pastötter, Präsident Deutsche Gesellschaft für Sozialwissenschaftliche Sexualforschung
Podiumsteilnehmende:
- Pasquale Coquoz, présidente de l'Association romande et tessinoise des éducatrices / teurs, formatrices / teurs en santé sexuelle et reproductive ARTANES
- Prof. (US) Dr. Jakob Pastötter, Präsident Deutsche Gesellschaft für Sozialwissenschaftliche Sexualforschung
Moderation:
Myriam Caranzano-Maître, Geschäftsleiterin ASPI (Fondazione della Svizzera italiana per l'Aiuto, il Sostegno e la Protezione dell'infanzia) / Vorstandsmitglied von ISPCAN (International Society for the Prevention of Child Abuse and Neglect)