Eine junge Frau hält ihre Hand ausgestreckt hin. Darauf steht STOP.

«Die Entwickler*innen müssen den Kindesschutz mitdenken»

Pädokriminelle Fälle im Internet sind in den letzten Jahren immer häufiger vorgekommen. Um Kinder und Jugendliche zu schützen, braucht es zusätzliche Anstrengungen.

Pädokriminelle Fälle im Internet sind in den letzten Jahren – gerade während der Corona-Pandemie – immer häufiger vorgekommen. Und mit der Künstlichen Intelligenz nehmen die Möglichkeiten für Cybersexualdelikte noch weiter zu. Um Kinder und Jugendliche zu schützen, braucht es zusätzliche Anstrengungen.

Drei von fünf Mädchen zwischen 12 und 19 Jahren sind online schon mal sexuell belästigt worden. Und fast jedes zweite Mädchen hat erlebt, dass eine fremde Person es dazu auffordert, aufreizende Fotos von sich zu senden. Bei den Jungs sind die Zahlen gemäss der JAMES-Studie 2022 etwas tiefer: Ein Drittel hat bereits sexuelle Belästigung erfahren, jeder Fünfte wurde schon mal nach erotischen Fotos gefragt. Klar ist: Die Befragung, die von der Zürcher Hochschule für Angewandte Wissenschaften alle zwei Jahre durchgeführt wird, macht deutlich, dass die Zahl der Betroffenen in den letzten Jahren deutlich gestiegen ist.

Die schiere Menge an Bildern überfordert die Strafverfolgungsbehörden weltweit bereits jetzt.

Jürgen Stock, Generalsekretär Interpol

Interpol: so viele Fälle wie noch nie

Zahlen aus dem Ausland weisen in dieselbe Richtung – nicht zuletzt während der Corona-Pandemie. Interpol-Generalsekretär Jürgen Stock stellte in Bezug auf Bilder von sexuellem Missbrauch an Kindern im Internet für 2021 einen traurigen Rekord fest und mahnte: «Die schiere Menge an Bildern überfordert die Strafverfolgungsbehörden weltweit bereits jetzt.»

Bei anderen sogenannten Cyber-Sexualdelikten ist die Datenlage zu minderjährigen Opfern weit geringer. In der Schweiz werden Straftaten in diesem Bereich erst seit 2020 von zentraler Stelle erfasst, nämlich in der polizeilichen Kriminalstatistik des Bundesamts für Statistik. Davor waren Daten maximal in den einzelnen Kantonen verfügbar. Eine allgemeine Aussage über die Entwicklung der letzten Jahre ist darum nicht möglich. Ausserdem sind Cyber-Sexualdelikte oft mit Scham oder Angst seitens der Betroffenen verbunden, weshalb mit einer hohen Dunkelziffer gerechnet werden muss.

Was die Daten aber zeigen: Rund drei Viertel der betroffenen Personen bei den knapp 2600 erfassten Delikten im Jahr 2021 waren minderjährig. Und: Betroffen sind hauptsächlich Mädchen, meist im Alter zwischen 10 und 15 Jahren.

Erwachsene erschleichen sich das kindliche Vertrauen mit falschen Profilen

Wird von Cyber-Sexualdelikten gesprochen, geht es um verbotene Pornografie, Grooming, Sextortion und Live-Streaming in sexuellem Kontext:

  • Verbotene Pornografie betrifft die Herstellung und Verbreitung von Darstellungen sexueller Handlungen mit Kindern über das Internet. Auch Bilder von ganz oder teilweise nackten Kindern können als pornografisch eingestuft werden.
  • Von Cybergrooming wird gesprochen, wenn Erwachsene mit einer sexuellen Motivation versuchen, über Online-Kanäle (z.B. Soziale Netzwerke, Chatrooms, Game-Chats oder Dating-Apps) in Kontakt mit Minderjährigen zu treten. Die Erwachsenen geben sich meist als Teenager aus, nehmen zunächst locker und belanglos Kontakt auf und erschleichen sich nach und nach das Vertrauen der Minderjährigen, das schlimmstenfalls in sexualisierter Gewalt mündet.
  • Bei Sextortion handelt es sich um Erpressung mithilfe von freizügigen Fotos oder Videos. Täter (Hinweis: Da die Täter im Bereich sexualisierter Gewalt überwiegend männlich sind, verzichten wir in diesem Artikel auf Gender-Formen) nutzen Bildmaterial ihrer Opfer, das diese vielleicht in einer intimen Beziehung sogar selber erstellt haben. Später wird gedroht, dass das Bildmaterial auf Social-Media- oder anderen Plattformen veröffentlicht wird. Oder ein Foto wurde bereits von Dritten unrechtmässig weiterverbreitet. Die Täter fordern von der betroffenen Person oder seinem Umfeld Geld, weitere erotische Aufnahmen (z.B. Striptease) oder ein reales Treffen. Mit heutigen Bildbearbeitungsprogrammen und insbesondere mit Künstlicher Intelligenz können alltägliche Fotos und Videos zudem immer einfacher zu Erpressungsmaterial bearbeitet werden. Das FBI hat bereits entsprechend gewarnt.
  • Beim Live-Streaming zwingt der Täter entweder die (minderjährige) Opfer dazu, vor der Webcam sexuelle Handlungen vorzunehmen. Oder er beauftragt eine Drittperson, sexuelle Handlungen zu filmen und live zu übertragen.

Anonymität senkt die Hürde, wenn sich jemand melden will

Seit zwei Jahren ist zudem die Online-Meldestelle → clickandstop.ch in Betrieb, ein Gemeinschaftsprojekt von Kinderschutz Schweiz und der Guido Fluri Stiftung für alle, die sich nicht direkt bei der Polizei melden möchten. Zurzeit gehen monatlich rund 100 Meldungen ein, wie Regula Bernhard Hug erklärt. Sie leitet die Geschäftsstelle von Kinderschutz Schweiz und weiss: «Die Anonymität unserer Anlaufstelle ist wichtig. Da kontaktiert uns zum Beispiel die Mutter einer Minderjährigen, die eine erotische Aufnahme von sich verschickt hat, telefonisch. Oder IT-Mitarbeitende, die auf dem Büro-Computer des Chefs kinderpornografisches Material entdeckten, melden sich über das Meldeformular.»

Wenn eine Meldung via Meldeformular eingeht, übernimmt die Strafverfolgungsbehörde, um die strafrechtliche Relevanz abzuklären. Daneben melden sich aber auch Menschen telefonisch oder schriftlich, weil sie genauere Informationen rund um das Thema wünschen, ein Vorkommnis nicht einordnen können oder sich beraten lassen wollen. Betroffene Personen wie potentielle Täter haben so schon Kontakt aufgenommen, aber auch Eltern, Fachleute und Behörden.

Es wird so viel Geld in die Entwicklung gesteckt, doch an den Kindesschutz wird zuletzt gedacht.

Regula Bernhard Hug, Leiterin Kinderschutz Schweiz

Im Technologie-Wettstreit bleibt der Kindesschutz auf der Strecke

Mit Blick auf die EU und die USA fordert Regula Bernhard Hug: «Die Schweiz darf in diesem Bereich nicht schlafen. Cyberkriminalität kennt keine Grenzen.» Auch die privaten Telekomanbieter (wie Swisscom, Sunrise oder Salt) müssten aus ihrer Sicht mehr in die Plicht genommen werden.

Ein grosses Potenzial sieht die Kindesschutz-Expertin im sogenannten Security by Design. Damit ist gemeint, dass sicherheitsrelevante Aspekte wie eben der Kindesschutz bereits im Prozess der Entwicklung von Hard- und Software und insbesondere auch in der Gaming-Industrie berücksichtigt werden.

«Wenn zum Beispiel ein Game so entwickelt wird, dass im Forum niemand mehr schreiben kann ‚Komm, wir treffen uns auf dem Spielplatz um die Ecke.‘», erklärt Regula Bernhard Hug, «dann werden klassische Grooming-Strategien unterbunden.» Heute stehe hingegen noch viel zu oft die technische Innovation im Vordergrund: «Es wird so viel Geld in die Entwicklung gesteckt, doch an den Kindesschutz wird zuletzt gedacht - wenn überhaupt. Das Metaverse ist ein weiteres Beispiel dafür. Auf diese Weise hinken wir den technischen Entwicklungen ständig hinterher.»

KI verschärft Dringlichkeit für geeignete Massnahmen

Künstliche Intelligenz verschärft dieses Problem noch weiter. Schon heute können mithilfe von KI-Tools gefakte Profile erstellt oder Fotos und Videos so manipuliert werden, dass man kindlich/jugendlich erscheint, obwohl man längst erwachsen ist. Und wenn bereits Fachleute kaum mehr erkennen, was real und was bearbeitet bzw. gefälscht ist, wie sollen dann Kinder und Jugendliche dazu in der Lage sein? Sie ahnen ja nichts Böses, wenn sie online mit unbekannten Kindern/Jugendlichen in Kontakt treten.

Um ihnen dabei zu helfen, sich sicher im Netz zu bewegen, Gefahren zu erkennen und sich nicht täuschen zu lassen, brauchen sie Hilfestellungen. Angebote von Kinderschutz Schweiz wie z.B. "Mein Körper gehört mir!" setzen hier an.

Weitere Sensibilisierungs-Anstrengungen, die sich einerseits an die breite Öffentlichkeit, andererseits gezielt an Heranwachsende, Eltern und Lehrkräfte richten, empfehlen die Autor*innen eines Forschungsberichtes der Universität Lausanne. Sie stützen sich dabei auf eine Auswertung bestehender Massnahmen in der Schweiz und auf Gespräche mit nationalen und internationalen Expert*innen.

Unsere Tipps

Gerade für Eltern ist es angesichts der rasanten technischen Entwicklungen praktisch unmöglich, immer up to date zu sein. «Als Eltern müsste man jede App und jedes neue Game, für das sich das Kind interessiert, downloaden und mit Blick auf den Kindesschutz genau unter die Lupe nehmen», sagt Regula Bernhard Hug. «Das überfordert komplett.»

Kindersicherungs-Einstellungen sind ein erster Schritt, reichen aber nicht aus. Wichtig ist, Kinder und Jugendliche zu begleiten und in ihrer Medienkompetenz zu unterstützen:

  • Klären Sie über mögliche Risiken auf und schimpfen Sie nicht mit Ihrem Kind, wenn etwas passiert ist, z. B. wenn es ein sexy Foto verschickt oder einer fremden Person die Telefonnummer verraten hat. Ihr Kind soll wissen, dass es immer auf Sie zukommen und auf Ihre Unterstützung zählen kann.
  • Social Media- oder Messenger-Anbieter legen oft ein Mindestalter von 13 Jahren fest. Wenn ein Kind das erste Mal einen solchen Dienst einrichtet, ist es wichtig, das Profil gemeinsam zu erstellen und darüber zu sprechen, mit wem das Kind private Nachrichten austauschen darf und wann Vorsicht geboten ist.
  • Vermitteln Sie Ihrem Kind: Wenn ein Absender unbekannt ist, sollte man nicht auf Nachrichten antworten. Personen, die sich unangemessen verhalten, sollen blockiert werden.
  • Offene Gespräche über Sexualität fördern auch ein Gespür für die eigenen Grenzen. Durch altersgerechte Gespräche und das Beantworten von Fragen können Eltern ihren Kindern helfen, ein positives Verhältnis zu ihrer eigenen Sexualität aufzubauen und ihre Grenzen zu erkennen und zu respektieren.
  • Jugendliche sollten sich darüber im Klaren sein, dass ein Foto oder Video ungewollt verbreitet und manipuliert werden kann. Raten Sie Ihrem Kind davon ab, Bilder oder Videos, die es nackt oder in erotischen Posen zeigen, zu verschicken oder online zu veröffentlichen. Jugendliche, die dennoch in einem sicheren Setting Nacktfotos machen möchten, sollten darauf achten, dass das Gesicht oder andere persönliche Merkmale nicht zu erkennen sind. Und in diesem Fall ist es wichtig, dass sich die Jugendlichen des rechtlichen Rahmens und der Risiken bewusst sind, die mit dem Versenden dieser Bilder verbunden sind.
  • Als Eltern sollten Sie sich ausserdem bewusst sein, dass das Teilen von Fotos Ihrer Kinder potenzielle Missbrauchsmöglichkeiten schafft.


Gestützt auf die wissenschaftlichen Arbeiten will auch der Bundesrat Massnahmen zum Schutz Minderjähriger vor Cyber-Sexualdelikten vorantreiben und die Zusammenarbeit der verschiedenen Akteure verstärken. Jugend und Medien führt Massnahmen durch, um Eltern und Bezugspersonen von Kindern und Jugendlichen für dieses Thema zu sensibilisieren.

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Weitere Informationen und Hilfestellungen finden Sie hier:

Bettina Bichsel ist Journalistin und Texterin. Sie schreibt und bloggt unter anderem für Jugend und Medien.